Der Ruf aus Dresden

Dresden
Frauenkirche

Dresden/Oberrohrdorf. Zweihundert Jahre stand die glockenförmige Kuppel der Frauenkirche in Dresden - monumental und graziös zugleich - über den Dächern der Altstadt. Sie krönte eines der schönsten städtebaulichen Ensembles der Welt, das berühmte Panorama an der Elbe. In den Jahren 1726 bis 1743, nach den Plänen des wagemutigen Ratsbaumeisters und Architekten George Bähr gebaut, gilt die Frauenkirche als bedeutendster Kirchenbau der evangelisch-lutherischen Christen in Deutschland.

Zwei Tage nach den Angriffen auf Desden, im Februar 1945, stürzte die stolze Kuppel ausgebrannt in sich zusammen, so wie fast alles in der Stadt. Mehr als 45 Jahre standen die Ruine und der Trümmerberg vor aller Augen - ein ergreifendes Denkmal der Zerstörung Dresdens.

Jetzt wird die Frauenkirche wieder aufgebaut: Eines der bedeutendsten Meisterwerke der europäischen Baukunst wird aus der Zerstörung wiedererrichtet, der vom Kriege schwer verwundeten Stadt Dresden ihr Wahrzeichen, ihre Seele und ein wichtiger Teil ihrer besonderen Schönheit zurückgegeben - eines der schönsten städtebaulichen Kunstwerke - das Dresdner Elbpanorama - wird wieder vollendet.

Der Wiederaufbau

Die Silhouette der Frauenkirche kehrt in Dresdens Stadtbild zurück. Aus aller Welt fliessen Spendermillionen in die Rekonstruktion des Wunderwerkes. Auch in der Schweiz wird für das Monument gesammelt. Peter Rinderknecht präsidiert den Verein "Schweizer Freunde der Frauenkirche Dresden". Das Leben des Aargauers ist eng verbunden mit dem Wahrzeichen der sächsischen Metropole.

Dresden im August dieses Jahres. Die Flut, die sich nach Anschwellen der Erzgebirgsbäche über die Stadt ergoss, war dramatisch. Semperoper, Zwinger, Hauptbahnhof – alles metertief versunken. Die frisch renovierte Stadt bot ein Bild des Jammers. Dem Hauptschiff der Frauenkirche stand das Wasser schon bis zum Kragen, doch geflutet wurde dann nur die Unterkirche.

Kanzeltausch Dresden-Zürich

Als vor vier Monaten in Ostdeutschland die Dämme brachen, sass der 81-jährige Peter Rinderknecht im aargauischen Oberrohrdorf vor dem Fernsehgerät. Er fühlte sich hilflos, wollte aber dennoch etwas tun. Um das Augenmerk der Leute auf die Geschehnisse in Dresden zu lenken, organisierte Rinderknecht zusammen mit anderen einen "Kanzeltausch". Während eine Zürcher Pfarrerin in der Elbestadt auf die Kanzel stieg, berichtete zur selben Zeit ein sächsischer Pfarrer im Zürcher Grossmünster über die Jahrhundertflut. Die Kirche war randvoll.

Der Kontakt nach Dresden

In Peter Rinderknechts Wohnung zeugen vollgestellte Regale mit Büchern, Zeitschriften und Manuskripten von einem bewegten Leben. "Das Schicksal der Frauenkirche verfolge ich seit Jahren", sagt er. Für einen Schweizer eher ungewöhnlich. Ein Grund für sein Interesse an diesem Barockwerk findet sich in der verzweigten Familiengeschichte. Rinderknechts Gattin ist als Pfarrerstochter in Speyer aufgewachsen. Ihre Schwester reiste häufig zu DDR-Kirchentagen, wo sie den Dresdner Pfarrer Karl-Ludwig Hoch kennen lernte. Gegen Ende der achtziger Jahre nahm Rinderknecht mit ihm Kontakt auf.

Der Aargauer, der vor seiner Pensionierung unter anderem Lehrer für Deutsch und Geschichte sowie Informationschef beim Industriekonzern BBC war, realisierte rasch, wen er da kennen gelernt hatte: Pfarrer Hoch, Jahrgang 1929 und wacher Zeitzeuge, sympathisierte mit kirchlichen Oppositionsgruppen und war auch sonst kein unbeschriebenes Blatt. Im Wende-Herbst 1989 sollte Hoch zu den Aktivisten der ersten Stunde gehören.

Rinderknecht, 20 Jahre Redaktor beim Zürcher "Kirchenboten", reiste oft in die DDR. Immer, wenn er in Dresden war, nahm er Kontakt mit Pfarrer Hoch auf. Die Freundschaft der beiden Familien wuchs. "Noch vor der Wende schaffte ich es, Familie Hoch in mein Bündner Ferienhaus einzuladen", sagt Rinderknecht mit erkennbarem Stolz.

Die Ruine prägte sich tief ein

Es war an einem der Besuche bei Pfarrer Hoch, als Rinderknecht die Frauenkirche erstmals sah. "Der erste Anblick werde ich nie vergessen", erinnert er sich. Der Dresdner zeigte ihm den grossen Schutthaufen mit den zwei angekohlten Stümpfen. Es waren die Reste dessen, was einmal in einem Atemzug mit dem Petersdom in Rom genannt wurde. Ein Wiederaufbau der Frauenkirche lag für die beiden Männer zu diesem Zeitpunkt "völlig ausserhalb der Denkbarkeit".

Von Pfarrer Hoch vernahm Rinderknecht auch, wie sich dort jeweils zum 13. Februar, dem Jahrestag der Bombardierung, gegen Ende der achtziger Jahre der lautlose Protest gegen das DDR-Regime zu formieren begann, der schliesslich im 89er-Umbruch eskalierte. Er vernahm, wie nach dem Fall der Mauer der Wunsch aufkam, die Frauenkirche wieder aufzubauen. Es war schliesslich sein Freund Pfarrer Karl-Ludwig, der mit dem von ihm verfassten "Ruf aus Dresden" die Initialzündung für den Wiederaufbau der Frauenkirche gegeben hatte. Rinderknecht: "Der Ruf wurde in der ganzen Welt gehört."

Ein Anruf mit Folgen

Im Winter 2000 erhielte Rinderknecht von Pfarrer Hoch einen Anruf. "Warum beteiligt sich die reiche Kirche Schweiz nicht am Aufbau des Frauenkirche?" fragte er. Rinderknecht liess sich diese Frage nicht zweimal stellen. Noch im selben Jahr hob er den Verein "Schweizer Freunde der Frauenkirche Dresden" aus der Taufe, dem er seither vorsteht.

Die Schweiz ist seither eines der Mitglieder auf der beachtlichen Liste der Fördervereine, die in der ganzen Welt präsent sind. Entschlossen ging Rinderknecht ans Werk. Ein Foto zeigt ihn mit Christian Hoch, dem Sohn von Pfarrer Hoch, vor der Frauenkirche. Aus dessen Händen erhielt der Aargauer den "Stifterbrief" für seine Spende von damals 3.000 Mark, die er zum Anlass seiner goldenen Hochzeit überwiesen hatte.

Emotionaler Bezug zum Bauwerk fehlt in der Schweiz

Unermüdlich versucht Rinderknecht seither, in der Schweiz neue Freunde für den Förderverein zu gewinnen. Dieser verfügt derzeit über 150 Spenderadressen. Die Einkünfte belaufen sich auf 40.000 Franken. Dass die Sache nicht einfach werde, sei ihm klar gewesen. Für den vierfachen Familienvater liegen die Gründe auf der Hand. "Dresden liegt nicht gleich um die Ecke, vielen Schweizern fehlt der emotionale Bezug zu Ostdeutschland und zur Frauenkirche selbst." Die Schweiz sei ja an deren Zerstörung nicht beteiligt gewesen. Zudem gebe es hierzulande bloss gerade mal 4.000 lutherische Christen.

Rinderknecht hofft auf Touristen, Kunstfreunde und Kircheninteressierte, die die Frauenkirche besuchen. Enttäuscht musste er bislang feststellen, dass in den Programmen vieler Schweizer Reiseunternehmen ein Besuch bei der Frauenkirche fehlt. Trotz fliessender Spendengelder sei Hilfe weiterhin nötig. Von den 125 Millionen Euro, die der Wiederaufbau benötige, seien bisher rund 90 Millionen Euro gesichert. Rinderknecht will demnächst bei Dresden-Fan Moritz Suter (ex-Chef der ehemaligen Fluggesellschaft Crossair) anklopfen. Suter zähle zu den tatkräftigsten Sponsoren für den Wiederaufbau des einstigen barocken Wunderwerks.

Kinder von einstigen Bomberpiloten

Im Oktober dieses Jahres fuhr Rinderknecht erneut nach Dresden. Er gehörte zu den 650 geladenen Gästen, die sich zur Jahresversammlung der Fördervereine versammelt hatten. Er traf auf Leute aus den USA von "Friends of Dresden", aus England vom "Dresden Trust" und aus Frankreich von der "Association Frauenkirche Paris". Darunter, das hat ihn beeindruckt, Kinder von ehemaligen alliierten Bomberpiloten. Wie immer verabredete er sich mit Pfarrer Hoch zu einer Tasse Tee.

Gemeinsam besuchten die beiden Männer die Baustelle der Frauenkirche. Beeindruckt stellten sie fest, wie die Kirche, die mit ihrem Wetterdach derzeit wie eine überdimensionale Schuhschachtel aussieht, das Stadtbild wieder markant prägt.

Rinderknecht hat alle Etappen des Wiederaufbaus verfolgt: Wie 1993 der Hochaltar aufgefunden wurde und 1996 in der sogenannten Unterkirche der erste Gottesdienst gefeiert wurde; wie schliesslich vor zwei Jahren das vom "Dresden Trust" neu angefertigte goldene Kuppelkreuz übergeben werden konnte. Wie alte, schrundige Blöcke neben neu erschaffene gesetzt wurden. An manchem Anlass war er selbst dabei.

Der Aargauer hat auch erlebt, wie sich im Laufe der Zeit die Haltung zum Wiederaufbau der Frauenkirche geändert hat. Die Wunde der Stadt solle offen bleiben: Diese Meinung vertraten gerade viele Dresdner selbst, darunter etliche Pfarrer.

Wiedergeburt aus Trauer, Trotz und Trümmern

Die Männer besuchten auch die Riesenregale, auf denen angekohlte Quader und Figuren darauf warten, an den Ursprungsort eingefügt zu werden. Torsi, geschunden, geschwärzt, mit rauen ausgeglühten Oberflächen. Hier trafen sie auf jenes Dresden, von dem Dichter Gerhart Hauptmann einst schrieb, er habe bei seinem Anblick "wieder das Weinen gelernt". Rinderknecht und Hoch hoffen, dass die Frauenkirche dereinst ein Symbol für geheilte Wunden, für Versöhnung und des Friedens sein werde.

Rinderknecht teilt Hochs Meinung, der sagt: "Der Wiederaufbau der Frauenkirche ist kein Dresdner Problem, auch kein deutsches Problem, sondern ein Weltproblem!" Vom anderen Ufer der Elbe aus haben die Männer fast wieder denselben Blick auf die barocken Prachtbauten, wie sie der Maler Canaletto einst gemalt hatte. Der Wiederaufbau der Frauenkirche geht zügig voran.

In nicht allzu langer Zeit wird sich die berühmte Kuppel unter dem Stahlgerüst herausschälen. Bis 2005, so die jüngste Kunde, soll der Wiederaufbau fertig sein. Peter Rinderknecht will dann dabei sein: "So Gott es will, werde ich."

Quelle: Kipa/Livenet

Datum: 03.12.2002
Autor: Vera Rüttimann

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