Gegen oder für die Freiheit? – Chirac sagt Nein zum Kopftuch und zur Kippa in Schulen

Jacques Chirac
Kopftuch

In Frankreichs Schulen und im öffentlichen Dienst soll das Zeigen auffälliger religiöser Symbole wie muslimischer Kopftücher, grosser Kreuze und jüdischer Kippas per Gesetz verboten werden. Das kündigte Präsident Jacques Chirac am Mittwoch in Paris an. Weltanschauliche Neutralität sei ein Grundpfeiler der französischen Gesellschaft, sagte Chirac in einer mit Spannung erwarteten Grundsatzrede im Elysée-Palast zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften.

Diskrete Zeichen der Religionszugehörigkeit wie etwa ein kleiner Davidstern, eine kleine Fatima-Hand oder ein ebenso kleines Kreuz sollen weiterhin zugelassen werden. Chirac äusserte sich auch zu den Problemen der Spitäler; dort dürften Patienten sich nicht weigern, von medizinischem Personal des anderen Geschlechts behandelt zu werden. „Wir müssen uns die Grundregeln des Zusammenlebens in Erinnerung rufen“, sagte Chirac in seiner Rede. Der Präsident will die Beamten der Republik explizit auf Neutralität gegenüber allen Religionen verpflichten und eine Stelle einrichten, ein Observatoire, das die Entwicklungen in diesem Spannungsfeld beobachtet.

Gegen Schwächung der Laizität

Chirac machte deutlich, wie der Staat, der von der Französischen Revolution geprägt wurde und sich seit 1905 generell vom Bereich des Religiösen fernhält, herausgefordert ist: „Wir dürfen nicht hinnehmen, dass man unter dem Deckmantel religiöser Freiheit die Gesetze und die Grundlagen der Republik bestreitet. Die Laizität ist eine der grossen Errungenschaften der Republik. Sie ist ein wesentliches Element des sozialen Friedens und des nationalen Zusammenhalts. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie geschwächt wird.“

Reaktionen der Religionsgemeinschaften

Von den Islam-Vertretern, die den Entschluss Chiracs bedauerten, hob sich der Mufti von Marseille, Soheib Bencheikh, ab. Er sprach sich für ein Kopftuchverbot an den öffentlichen Schulen aus. Der jüdische Oberrabbiner Joseph Sitruk unterstützte den Präsidenten. Der Sprecher der Bischofskonferenz sprach vorsichtig von einem „angemessenen“ Vorgehen, während der Bund der Protestanten an die Gefahr der Diskriminierung erinnerte.

Die NZZ schrieb am Donnerstag, die Laizität, die religiöse Neutralität des französischen Staates, beruhe auf Toleranz – und eben diese verfalle, «wenn die Mehrheit den Minderheiten einen bestimmten Way of Life aufzwingt». Die linksliberale Pariser Zeitung ‚Le Monde’ spricht in ihrem Editorial von einer „Politik der Angst“ und den Gefahren einer defensiven Laizität.

Le Monde: „Politik der Angst“

Das in Aussicht gestellte Gesetz werde sich vor allem gegen das Kopftuch richten – und so unvermeidlich zur Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung führen, wo doch ihre Integration dringender denn je sei. Die Zeitung findet es seltsam, dass in einem Land von 60 Millionen der Präsident „seine ganze Energie mobilisiert“, um sich mit einer Religion zu befassen, die „allerhöchstens von einer Million Menschen praktiziert wird“.

Mit aller Dringlichkeit werde nun ein Gesetz erarbeitet – für die Minderheit der Minderheit, die Kopftuch tragenden Musliminnen. Für ‚Le Monde’ ist dies irrational –im Lande der Aufklärung ein hartes Urteil.

Grösste Muslim-Minderheit in Westeuropa

Frankreich hat in Westeuropa die grösste muslimische Minderheit. Die Schätzungen zu ihrer Grösse schwanken beträchtlich, zwischen 3,5 und 5,5 Millionen. Viele junge Muslime haben keine Arbeitsstelle, was zu explosiven Verhältnissen in zahlreichen Vorstädten geführt hat. In den letzten Jahren begannen mehr Musliminnen und Muslime, ihre Religionszugehörigkeit öffentlich herauszustellen. Regelmässig zum Freitagsgebet gehen nach einer Erhebung etwa 20 Prozent. Die meisten Muslime Frankreichs stammen aus den Maghreb-Ländern Algerien, Marokko und Tunesien.

Datum: 20.12.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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