Unklare Auswirkungen des Urteils im deutschen Kopftuch-Streit

Bundesverfassungsgericht
Kopftuchstreit

Das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat ein Urteil gefällt, das weitherum Unbehagen weckt, weil es den Streit ums islamische Kopftuch an öffentlichen Schulen nicht entscheidet, sondern delegiert – und damit wohl ausweitet. Fünf der acht Richter des Zweiten Senats urteilten, der afghanischstämmigen Lehrerin Fereshta Ludin könne bei der Ausübung ihres Berufs das Tragen eines Kopftuches derzeit nicht verboten werden. Aber die Bundesländer könnten in der Sache Gesetze erlassen.

Das Oberschulamt Stuttgart hatte Ludin nicht eingestellt mit der Begründung, dass das Kopftuch ein religiöses Symbol und daher mit dem staatlichen (für Beamte bindenden) Neutralitätsgebot nicht vereinbar sei. Die Mehrheit der obersten deutschen Richter gewichtete die Freiheit der Lehrerin, ihrer Religion Ausdruck zu geben, höher.

Gleich zu werten wie Nonnentracht?

Im Hintergrund steht der emotional geführte Streit um die Bedeutung des Kopftuchs bei Musliminnen in Europa. In zahlreichen muslimisch geprägten Quartieren europäischer Städte hat das Kopftuch in den letzten Jahren eine unerwartete Renaissance erlebt: Junge Musliminnen bekennen sich damit zu ihrer Kultur und Religion, grenzen sich ab vom freizügigen westlichen Lebensstil.

Das Kopftuch gehöre „auch in Deutschland längst zum Alltag”, sagte der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), Elyas Nadeem, nach dem Urteil. Der Vorsitzende des Interkulturellen Rates, Jürgen Micksch, meinte, Musliminnen mit Kopftuch könnten ebenso religiös neutral unterrichten wie katholische Ordensschwestern. Dagegen sehen Feministinnen wie Alice Schwarzer im Druck auf Frauen, das Kopftuch zu tragen, eine Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, welche nicht verträglich ist mit europäischen Gleichheitsgrundsätzen.

Fereshta Ludin selbst sagte, sie habe sich in der Auseinandersetzung stigmatisiert und diskriminiert gefühlt. Nun sei klargestellt worden, dass einer Frau nicht allein deswegen das Bekenntnis zu Demokratie und Emanzipation abgesprochen werden könne, weil sie ein Kopftuch trage.

Mehr Druck auf Mädchen ohne Kopftuch

Während der Zentralrat, der Ludin unterstützt haben soll, die Entscheidung als “Zeichen für Toleranz” würdigte, äusserten sich Kirchenvertreter kritisch. Die lutherischen Landesbischöfe von Baden und Württemberg, Ulrich Fischer und Gerhard Maier, erklärten laut dem idea-Pressedienst, das Gericht erschwere mit seinem Urteil die Integration verschiedener Kulturen in den Schulen. Vermutlich kämen nun jene muslimischen Frauen und Mädchen, die kein Kopftuch tragen wollen, unter verstärkten Druck.

Die hannoversche Landesbischöfin Margot Kässmann erklärte, dass eine längst überwundene Unterdrückung der Frau durch die Hintertür einer muslimischen Kultur wieder eingeführt werde.

Hartmut Steeb von der Deutschen Evangelischen Allianz sieht in dem Urteil eine logische Konsequenz einer seit Jahrzehnten andauernden Entfernung des Rechtsstaates von seinen christlichen Grundlagen. Das entstandene Wertevakuum fülle sich mit Inhalten fremder Religionen. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland behauptet, dass das Kopftuch ebenso zur islamischen Pflichtenlehre gehöre wie das Gebet oder das Fasten. Ein Kopftuchverbot würde einem “Berufsverbot” gleichgekommen.

Kopftuch zeigt Islam-Praxis an

Die Muslime stützen sich auf Koranstellen (etwa Sure 33,59), wonach das Kopftuch bzw. der Schleier das passende Mittel für Frauen sei, sich in der Öffentlichkeit vor Zudringlichkeiten zu schützen. Der europäische Fatwa-Rat ist ein Gremium, das Rechtsgutachten für die Muslime Europas abgibt. Der Rat schrieb im letzten Jahr, Allah habe eine schamhafte, den Körper verhüllende Kleidung vorgeschrieben, damit sich die praktizierende Muslima von der Nicht-Muslima und der nicht praktizierenden Muslima abhebe. Laut dem Fatwa-Rat ist das Kopftuch Pflicht für die Muslima, aber – entgegen der Behauptung des ZMD – doch nur eine Anwendung des Islam und kein Grundpfeiler der Religion.

Welche Toleranz?

Andere Stellungnahmen zum Urteil verweisen auf mögliche Folgen des Urteils für die gesellschaftliche Entwicklung. Der Kirchenbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hermann Kues urteilte, die Toleranz gegenüber nichtchristlichen Religionen dürfe nicht so weit gehen, dass deren Symbole im Staatsdienst zugelassen werden.

Bundesländer wollen handeln

Bereits am Mittwoch kündigten die Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Hessen und Berlin an, Musliminnen das Unterrichten mit Kopftuch zu untersagen. Die hessische Kultusministerin Karin Wolff (CDU) sieht im Kopftuch keine Folklore, sondern die Ausprägung eines Glaubensbekenntnisses. „Und als solches hat es im Unterricht an hessischen Schulen keinen Platz.“

Der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann nannte die staatliche Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität „ein unverzichtbares Gut, das nicht relativiert werden darf“. Da das Kopftuch „mit dem Neutralitätsgebot nicht vereinbar“ sei, befürwortete auch der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, ein Verbot im Unterricht.

"Wie viel fremde Religiosität verträgt die Gesellschaft?"

Baden-Württemberg will erst nach einer Prüfung des Urteils über die Schaffung eines Gesetzes entscheiden. Kurz: Karlsruhe will, dass die Bundesländer angesichts der Zunahme verschiedener Religionsrichtungen in Deutschland das Ausmass religiöser Bezüge in der Schule selbst neu bestimmen. Dabei müssen sie eines des dornigsten Probleme des Einwanderungslandes Deutschland angehen: mit wieviel Toleranz und mit wieviel Anpassungsdruck der Staat auf fremde Religionen reagieren soll.

Die Verfassungsrichter wiesen schon im Juni, bei der mündlichen Verhandlung des Falls darauf hin, dass die Väter des deutschen Grundgesetzes die Probleme der Migration nicht gekannt hätten. Die Grundsatzfrage sei kompliziert: "Wie viel fremde Religiosität verträgt die Gesellschaft?" Seit dem 11. September 2001 achten die deutschen Politiker mehr darauf, dass sie nicht durch falsch verstandene Toleranz die Bildung einer abgeschotteten, nach eigenen Vorgaben lebenden Separatgesellschaft fördern.

Datum: 27.09.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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