„Antisemitismus mit unerträglicher Offenheit zurückgekehrt“: Nüchterner nahöstlicher Tour d’horizon

Arthur Cohn

Jedes Jahr schreibt der weltbekannte Basler Filmregisseur Arthur Cohn fürs jüdische Wochenblatt Tachles einen kenntnisreichen, pointierten Jahresrückblick. Das jüdische Jahr 5763, das letzte Woche endete, stand im Zeichen des Terrors.

Beim 103. Selbstmordattentat kamen der Chefarzt David Appelbaum und seine Tochter Nava ums Leben – am Vorabend ihrer Hochzeit. „Anderntags wurden sie Seite an Seite beerdigt, in Gegenwart der Gäste, die eigentlich zur Hochzeit geladen waren.“ Navas Bräutigam legte den Ring, den er ihr an den Finger stecken wollte, mit ins Grab.

Einseitige Medien in der Schweiz…

Arthur Cohn verdeutlicht die Voreingenommenheit von Schweizer Medien mit dem Nebeneinander (in der Basler Zeitung) des Berichts vom Tod der Appelbaums und eines Artikels über den Hamas-Mitbegründer Mahmud Al Zahar, der bei einem Bombenanschlag seinen Sohn verlor und selber verletzt wurde.

„Dieser unglaubliche Vergleich zwischen einem Arzt, der alle Kranken (auch Araber) hingebungsvoll behandelt, und einem Hamas-Führer, der nach dem Grundsatz ‚Tötet die Juden, wo immer ihr sie trefft’ handelt, zeigt eindrücklich, wie einseitig die Nahostberichterstattung in zahlreichen Schweizer Medien auch dieses Jahr geblieben ist.“

Auch wenn Gewalt das Lebensgefühl von Israelis und Palästinensern bestimmt – „der militarisierte Aufstand hat keines seiner Ziele erreicht“. Weder sei Sharon, der mit dem Versprechen der Sicherheit sein Amt gewann, zu Fall gekommen, noch habe die Siedlerbewegung gestoppt werden können, schreibt Cohn.

Und doch unterstützten zwei von drei Palästinensern die Selbstmordanschläge. „Damit ist bewiesen, dass die palästinensische Gesellschaft für den historischen Kompromiss mit Israel noch nicht reif ist.“ Der Weg dazu ist laut Cohn, „den Selbstmord-Terrorismus zu entmystifizieren, denn er zeigt jenen ‚paranoiden Islamismus’ auf, den Salman Rushdie als schlimmsten Feind der Werte der islamischen Zivilisation bezeichnet hat“.

Populäre Hamas

Die Hamas will laut dem Bericht Israel zerstören, den „zionistischen Feind aus ganz Palästina vertreiben“, nicht nur aus den 1967 besetzten Gebieten. Die Popularität der Terrorbewegung, die auch den Armen hilft, ist auch im Westjordanland erschreckend hoch (29 Prozent Zustimmung in einer Umfrage).

Cohn stellt heraus, dass die arabischen Staaten wenig tun, um der Not armer Palästinenser in den Flüchtlingslagern abzuhelfen. Er kritisiert, dass enorme Summen, Hilfsgelder der Staatengemeinschaft, von der korrupten Führung unter Arafat missbraucht wurden. Daher leide niemand mehr unter den Terrorakten als die Palästinenser: „Ihnen kann nicht geholfen werden, solange ihre Führung an der Zerstörung Israels mehr interessiert ist als an kontinuierlichem Anheben des Lebensniveaus.“

Arafat blieb, der er war

Schonungslos urteilt Arthur Cohn über Jassir Arafats Taten: Sie bestünden „in Verbrechen von Flugzeugentführungen und Sprengen von Passagier-Flugzeugen, dem kontinuierlichen Versuch, Jordanien zu destabilisieren, der erfolgreichen Vernichtung Libanons als eines souveränen Staates, der gezielten Opferung palästinensischer Kinder, um in skrupellos zynischer Verletzung der Menschenrechte Fernsehübertragungen effektiver erscheinen zu lassen. Arafat hat Friedenshoffnungen brutal zerstört und nie den Schritt vom Terroristen zum Staatsmann vollzogen.“

Dazu kommt noch die unsägliche Korruption von Arafats Behörde. Trotz alledem verurteilt Cohn die Erwägung der israelischen Regierung, Arafat zu eliminieren. So werde dem Symbol des palästinensischen Kampfs unverdiente Popularität zuteil.

Mahmud Abbas, für hundert Tage ‚Regierungschef’ der Palästinenser, kommt etwas besser weg. Er, der die Existenz der Nazi-Gaskammern einst leugnete, sei aus der Rolle des Revolutionärs herausgeschlüpft. Und er sei auch nicht korrupt wie der alte Führer.

Auf seinem Gang durch den nahöstlichen Irrgarten streift der Schweizer Filmemacher auch Israels Nachbarn. Der amerikanische Feldzug gegen Saddam Hussein hat eine Gefahr für Israel erledigt. Für den Judenstaat bleibt aber – so Ariel Sharon – „die Entwicklung in Iran, Syrien und Libyen ernst und gefährlich“. Die Irak-Krise hat laut einem libanesischen Publizisten den "Abgrund des gegenseitigen Misstrauens zwischen den Bevölkerungen und herrschenden Eliten" krasser hervortreten lassen.

Nachbarn – und unversöhnliche Feinde

Syrien bezeichnet der jüdische Filmemacher als grössten Verlierer des Irak-Kriegs. Den USA gilt der grosse nördliche Nachbar Israels als Schurkenstaat. Der politische Frühling, den man mit Bashar Assads Machtübernahme nahen sah, sei längst der Gewaltherrschaft, dem eisigen Regiment der Geheimdienste gewichen.

Die Kluft zwischen Saudi-Arabien und den USA hat sich im abgelaufenen Jahr 5763 weiter vertieft. Nicht nur stammten die meisten Attentäter des 11. September aus dem Wüstenkönigreich, das in einer tiefen inneren Krise steckt, auch die Hälfte des Militärbudgets der Hamas wird von den Saudis gestellt.

Cohn zitiert einen Bericht der amerikanischen Rand Corporation, wonach die Saudis „auf jeder Stufe der Terrorkette aktiv sind - von den Planern bis zu den Financiers, von den Kadern bis zum Fussvolk, von den Ideologen bis zu den Beifallklatschern… Saudi-Arabien ist der Kern des Bösen, der wichtigste Anstifter."

Hoffnung auf den Domino-Effekt

Mit der US-Besetzung des Iraks sind auch die Hoffnungen auf ein Ende der Herrschaft der Mullahs in Iran gewachsen. Washington rechnete auf den Domino-Effekt, den ein demokratisiertes Land in der Region auslösen würde. Wie begründet diese Hoffnungen sind, darüber wagt der Beobachter kein Urteil.

Er erwähnt indes auch den kürzlichen Besuch Sharons in Indien, welches aufgrund seiner Frontstellung gegen Pakistans Islamisten „brennende Sicherheitsprobleme regelmässig mit israelischen Experten diskutiert und israelische Lenksysteme und elektronische Sicherheitsanlagen im Wert von 1,5 Milliarden Dollar aus Israel importiert. Da Indien leitendes Mitglied der internationalen Atomenergiebehörde ist und Verbindungen mit Iran unterhält, kommt dem Besuch Sharons in Indien aktuelle Bedeutung zu.“

Jordanischer Tanz auf dem hohen Seil

In Jordanien konstatiert Cohn einen erfolgreichen Balanceakt des jungen Königs Abdallah. „Das Versprechen von Präsident Bush, eine Freihandelszone im Nahen Osten zu errichten, würde der jordanischen Wirtschaft einen enormen Konjunkturschub bringen und hat Jordanien ermutigt, die diplomatischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit Israel zu intensivieren.“ Der Handel habe sich dieses Jahr vervielfacht.

Anderseits sind 25 Jahre nach Camp-David die Beziehungen zwischen Ägypten und Israel „kälter denn je“, wozu die Medien am Nil durch ihre Hetze gegen das Judentum viel beitrügen. Positiv wertet Cohn die engeren Beziehungen zur Türkei und die Kontakte von Aussenminister Shalom mit dem Kronprinzen von Bahrain und dem Scheich von Qatar.

„Das erstaunlichste Zeichen für die Bemühungen gewisser moslemischer Staaten, nicht auf die Liste der amerikanischen Terroristenländer gesetzt zu werden, ist die mutige Einstellung des pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf gegenüber Israel, die in der Entsendung eines Emissärs nach Tel Aviv kulminierte.“ Davon dürfte der Judenstaat angesichts der nuklearen Kapazitäten Pakistans besonders angetan gewesen sein.

EU – Augen zu

Immer wieder und auch in der zweiten Intifada seit 2000 erlebten die Israeli, „dass die Europäer aus moralischen oder ökonomischen Gründen die Palästinenser unterstützten“. Laut Cohn lässt die EU viel Geld in Arafats Truhen fliessen und drückt vor seiner Willkür beide Augen zu. In den europäischen Medien gewinne die hasserfüllte Judenfeindschaft, der Antisemitismus „erschreckend an Ehrbarkeit“, was sich etwa in Vergleichen zwischen den Vorgängen in Jenin und dem Fall des Warschauer Ghettos niederschlug.

Cohn deutet sozialpsychologisch, „im Zusammenhang mit der angestrebten Absolution von Schuldgefühlen. Mit den sechs Millionen ermordeten Juden hat Israel gekauft, was man im Basketball ein ‚Time-Out’ nennt. Fünf Jahrzehnte später ist der Antisemitismus mit unerträglicher Offenheit zurückgekehrt. Wie überaus bequem und tröstlich lässt sich doch mit Zwischenfällen in Gaza und Jenin das Tabu der Geschichte widerlegen. Israel so schlimm darzustellen wie die Nazis, lässt jene, die seinerzeit geschwiegen haben, die Last des Holocaust leichter ertragen.“

In Israel habe sich deswegen das Misstrauen gegen Europa – gegen Frankreich besonders – vertieft. In der Uno sei der Kleinstaat isoliert. Laut Cohn ist Israel als einziges Land in keiner regionalen Arbeitsgruppe der Weltorganisation vertreten, während Libyen die Uno-Kommission für Menschenrechte in Genf präsidiert!

Mit Oslo in die – Sackgasse

Der Filmemacher kommt in seinem Tour d’horizon zurück zu einem Wort der grossen Golda Meir: "Frieden wird im Nahen Osten erst einkehren, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie die Juden hassen." Dies sei noch nicht geschehen, da die (meisten?) Palästinenser unverändert das Auslöschen des Staates Israel vor Augen hätten.

Sharons Sieg bei den Wahlen im Januar (ein eindeutiges Misstrauensvotum gegen den Oslo-Kurs von Ehud Barak) habe zu einer härteren Bekämpfung des Terrors geführt; dabei werde ihm das Fehlen eines politischen Konzepts vorgeworfen. Cohn hebt hervor, dass Sharon nun im Grundsatz akzeptiert hat, „dass ein palästinensischer Staat letztlich gebildet werden kann, solange es sich um einen demilitarisierten Ministaat handelt“.

Arm, ärmer…

Die Regierung Sharon bekommt es mit einer erschreckend wachsenden Armut im Land zu tun. Mittlerweile lebt laut Cohn jeder fünfte Israeli unter der Armutsgrenze. Die Intifada stürzte das Land in eine Wirtschaftskrise: Touristen und Investitionen blieben aus, das Platzen der New-Economy-Illusionen traf den Hightech-Standort hart.

Der Sicherheitszaun, den Israel baut, wird gemäss Cohn „von der überwiegenden Mehrheit der israelischen Bevölkerung als wirksame Methode zur Eindämmung von Selbstmordanschlägen angesehen. Diskussionen gibt es lediglich darüber, welche Siedlungen innerhalb oder ausserhalb der Mauer bleiben sollen. Tatsache ist, dass aus dem ausgezäunten Gaza bisher kein einziger Selbstmörder gekommen ist“.

Road Map – in den Papierkorb

Der jüdische Filmemacher beurteilt die "Road Map", den vielbeschworenen Fahrplan zu einer Friedensregelung, rundum negativ. Denn sie erlaube das Entstehen eines palästinensischen Staats, „ohne dass vorher klar gesagt wird, dass er entmilitarisiert sein muss, ohne dass vorher die Grundprobleme zwischen Israel und den Palästinensern gelöst wurden (Rückkehr von arabischen Flüchtligen, Jerusalem, feste Grenzen), ohne dass vorher der geistige Terror in Schulen, Medien und Moscheen eindeutig beendet werden muss“.

Cohn erwähnt die Vorbehalte, die Israel in Washington anbrachte, nicht; er drückt Erleichterung darüber aus, dass mit dem Fall von Mahmud Abbas der Fahrplan an Kredit verloren und der Druck auf Israel nachgelassen hat.

Wozu "Hudna"?

In den sieben Wochen der von den Arabern "Hudna" bezeichneten Waffenruhe wurden 27 Israeli getötet und 160 verletzt. In dieser kurzen Zeit gab es 240 Terroranschläge, schreibt Cohn und hebt hervor, dass jedem weiteren Waffenstillstand, solle er Sinn machen, die Zerschlagung der terroristischen Infrastruktur vorausgehen müsse.

„Die gezielte Tötung palästinensischer Extremisten wird von der überwiegenden Mehrheit aller Israeli befürwortet und wurde von Generalstaatsanwalt Rubinstein als legale Kampfhandlung bezeichnet. Ein einseitiger Rückzug aus dem Westjordanland vor Ende der gewaltsamen Konfrontation würde für Israel lebensgefährlich sein“, da er (so Ex-Generalstabchef Ya’alon) die Palästinenser zu weiterer Gewalt ermutigen würde.

Immer noch: David gegen Goliath

Israel, ein Land von der Grösse des deutschen Bundesstaats Hessen, ist und bleibt ein David gegen den Goliath der arabischen Welt. Nochmals bringt Cohn Zahlen: „Es gibt 22 arabische Polizeistaaten und Bürokratien und nur ein demokratisches Israel. Israel hat keine Ölreserven, die Araber haben zwei Drittel der Weltversorgung. Sie besitzen 750mal mehr Land als Israel, und sie geben jedes Jahr fünfmal mehr für das Militär aus. Diese ernüchternde Statistik schliesst nicht den Rest der islamischen Welt ein, welche zum grössten Teil die arabischen Nationen unterstützt und Hass gegen Israel fördert.“

Der Tour d’horizon endet mit der Frage, „ob es nicht Zeit wäre, nach all den Jahrhunderten von grausamen Verfolgungen das jüdische Volk endlich in seinem eigenen kleinen Staat in Ruhe leben zu lassen, um dort seine Existenz, seinen geistigen Werten entsprechend, kreativ zu gestalten“.

Datum: 02.10.2003
Autor: Peter Schmid

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