Strukturelle Ungerechtigkeit

«Den Armen entgeht jährlich eine Billion»

Arme Länder enthalten an Entwicklungshilfe viel weniger, als was sie durch Preisdrückerei, Korruption und Steuerhinterziehung verlieren. Joel Edwards fordert Christen auf, energisch dagegen anzutreten.
Was wird für die Rohstoffe im Süden bezahlt? Containerschiff im Hamburger Hafen.
Christen sollen gegen Korruption global vorgehen: Joel Edwards.

Joel Edwards, Direktor des weltweiten evangelischen Entwicklungs-Netzwerks Micah Challenge, spricht am 15. September an der StopArmut-Konferenz in Thun. Er ermutigt bibelorientierte Christen, Fragen des globalen Handels aufzugreifen und für Gerechtigkeit zu arbeiten.

Lösungen aufzeigen

2013 wird Micah Challenge, der internationale Partner von StopArmut 2015, seine Kampagne auf Korruptionsbekämpfung fokussieren. «Wir tun das nicht als Wutbürger, sondern, wie ich sage, mit zorniger Hoffnung, angry hope», umreisst Micah-Leiter Joel Edwards die Stossrichtung im Livenet-Interview. «Wir wollen den Weg zu Lösungen ebnen, Hoffnung und Heilung vermitteln und neue Möglichkeiten eröffnen.» Edwards ist überzeugt: «Wenn Christen in dieser Haltung gegen Korruption vorgehen, tragen sie etwas Neues und Dynamisches bei, das Wandel bewirkt.»

1400 Millionen Menschen

«Jährlich fehlt in den Taschen der Armen dieser Welt eine Billion Dollar, weil sie zu wenig für ihre Arbeit und Produkte erhalten.» Edwards nennt die Zahl aufgrund von Erhebungen der Weltbank und von Transparency International und bezeichnet sie als konservative Schätzung. «1400 Millionen Menschen sind davon betroffen.» Wenn die Schweiz mit ihren Regelungen offen oder verdeckt zu dieser Ungerechtigkeit beitrage, dürfe sie sich über Forderungen und Nachforschungen nicht wundern. «Im globalen Dorf steht die Forderung im Raum, eine Ordnung zu überdenken, welche strukturell und systematisch die Ärmsten der Armen bestraft.»

Akteure im Süden und im Norden

Edwards räumt ein, dass Diktatoren im Süden und korrupte Regierungen, die Gelder auf Schweizer Bankkonten deponieren, ein Teil des Problems sind. Er fokussiert jedoch auf den Handel: «Für Rohstoffe und Waren drücken Produzenten und Händler in Afrika die Preise und verkaufen sie teuer im Westen.» Der Standort einer Bank spiele keine Rolle. «Wer Erlöse aus rechtswidrigem Handel annimmt, kann sich nicht in den Mantel der Tugend hüllen.»

Skandal Preisdrückerei

Auf dem ganzen Erdball neigen Menschen dazu, Gelegenheiten zu ihrem Vorteil auszunützen. «Aber halten wir die Proportionen fest: Von der Billion, die den Machtlosen jährlich vorenthalten wird, sacken korrupte Regierungen schätzungsweise 30-50 Milliarden ein. Die Preisdrückerei der Abnehmer und Händler macht wohl die Hälfte der Billion aus.» Verhängnisvoll wirkt sich aus, dass der Profit, den Unternehmen aus dem Nord-Süd-Preisgefälle ziehen, nicht in arme Länder zurückfliesst. «Daher verficht Micah Challenge den Grundsatz: Veröffentliche, was du zahlst – publish what you pay.»

Missstände offenlegen

Laut Edwards kommt die Kampagne, die dies fordert, zunehmend in Schwung, mit Folgen auch für die Gesetzgebung. «Die komplexen Mechanismen im Welthandel sind Hürden im Kampf für Gerechtigkeit.» Doch die Missstände müssten offengelegt werden. «Wir können die Probleme nicht einfach afrikanischen Diktatoren und korrupten Beamten in die Schuhe schieben. Was arme Länder an Entwicklungshilfe erhalten, ist viel weniger, als was sie durch Preisdrückerei und Steuerhinterziehung verlieren.»

Christen dürfen sich nicht damit entschuldigen, dass die Zusammenhänge zu komplex seien. «Wir sagen uns, dass jedes Unternehmen Gewinn machen muss und Profit ethisch neutral ist. Daher haben wir uns nicht ernsthaft mit dem strukturellen Unrecht befasst.» Weil sie die Bibel kaum daraufhin studierten, fehle evangelikalen Kirchen «die Sprache und kraftvolle Argumente, um für Gerechtigkeit einzutreten».

Die Bibel hat den Armen im Blick

Dabei spricht die Bibel die Zusammenhänge unmissverständlich an. Edwards zitiert aus dem Alten und Neuen Testament: Die Schwäche des Armen darf nicht ausgenutzt werden; wem der Mantel gepfändet wurde, der soll ihn für die Nacht zurück erhalten (2. Buch Mose, Kapitel 22, Verse 21-26). Waagen sollen korrekte Gewichte haben (3. Mose 19,36). Johannes der Täufer warnt die Soldaten vor Erpressung (Lukas-Evangelium 3,14). Jesus prangert Habgier an und fordert, dass das Ja ein Ja, das Nein ein Nein sei (Matthäus-Evangelium 5,37). «Mit alledem wird die Wichtigkeit von Fairplay, Transparenz und Rechtschaffenheit unterstrichen.»

Die Interessen aller Betroffenen berücksichtigen

Der Micah-Leiter schlägt den Bogen zu 2012: «Die aktuelle Krise des Finanzsystems zeigt uns, dass wir wie nie zuvor weltweit voneinander abhängig sind. Wenn China angegangen wird, Euro-Schuldpapiere zu kaufen, wissen wir, dass wirklich etwas schief gegangen ist. Wir brauchen neue Prinzipien und andere Einstellungen, um zukunftsträchtige Lösungen zu finden.» Die Krise will Edwards als Gelegenheit sehen, neu zu denken. «Wie sehen Systeme aus, die die Interessen von allen Beteiligten berücksichtigen? Wenn diese Krise uns nicht dazu bringt, dass wir unsere Werte überdenken, weiss ich nicht, was uns überhaupt zur Besinnung bringen kann.»

Zum Thema:
Joel Edwards: «Gerechtigkeit macht glücklich»

Datum: 03.07.2012
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet

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