Verkanntes Potenzial

«Alte Menschen helfen mehr, als ihnen geholfen wird»

Ältere Menschen werden in Politik und Medien meist als Kostenfaktor behandelt. Zu Unrecht, sagt Albert Wettstein, ehemaliger Stadtarzt von Zürich. Und er hat gute Argumente.
Albert Wettstein, bis 2011 Chefarzt des Stadtärztlichen Dienstes in Zürich

Ältere Menschen strapazieren das Vorsorgesystem, leben auf Kosten der Jungen und bringen das Gesundheitssystem an seine Grenzen. So lautet der Tenor in vielen Medienproduktionen und in politischen Gremien.

Ganz zu Unrecht, meint dazu Albert Wettstein, bis 2011 Chefarzt des Stadtärztlichen Dienstes der Stadt Zürich. Er selbst ist das beste Gegenbeispiel, denn er ist seit seiner «Zwangspensionierung» als Referent, Initiant von neuen Projekten und für die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter unterwegs.

Älter, gesünder, billiger

Wettstein macht mit statistisch abgesicherten Zahlen deutlich, dass Menschen nicht nur älter werden, sondern auch gesünder und lange aktiv bleiben. Gerade Menschen mit einem gesunden Lebensstil und einem guten Beziehungsnetz sind nicht nur sehr zufrieden mit ihrer Situation, sondern bleiben auch lange fit. Und Menschen, die alt werden, verursachen vor ihrem Tod sogar weniger Gesundheitskosten als jüngere. Ein Hinweis, dass die Politik zu pessimistisch eingestellt ist, sind die zahlreichen leeren Betten in Pflegeheimen, zum Beispiel im Kanton Aargau.

Das Potenzial entdecken und nutzen

Gegen die pessimistische Einstufung der älteren Generation stehen deren Engagement als Grosseltern, das bis heute das mangelnde flächendeckende Angebot an Betreuungsplätzen kompensiert, ihr Einsatz als Freiwillige und als Ehrenamtliche in Kirchen und politischen Gremien und Vereinen sowie als Initianten von Projekten und als Vermittler von Fachkompetenz. Wettstein appellierte an einer Tagung «Mündig ins Alter» der Reformierten Landeskirche Aargau am 27. Mai an die Kirchen, dieses Potenzial besser auszuschöpfen und Freiwillige nicht nur als «Gang-Go's» einzusetzen. Denn viele seien bereit, nach den Pensionierung in einer Landes- oder Freikirche Verantwortung wahrzunehmen.

Veraltete Rollenmuster ändern

Laut Wettstein haben alte Menschen den Wunsch, ihr Leben selbst zu gestalten und anzupacken, so lange dies möglich. Sie wollen – viele sind ehemalige 68er – zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. In Freiwilligeneinsätzen möchten sie selbstbestimmt handeln und nicht nur als Handlanger wahrgenommen werden. Doch leider, so Wettstein, nehmen die Freiwilligeneinsätze nicht zu, weil die interessierten Organisationen inklusive Kirchen an veralteten Rollenmustern festhalten. Weil sich daher viele nicht gebraucht fühlen, gehen sie dem Genuss und Reisen nach – und werden dann als Schmarotzer empfunden, was die Entsolidarisierung der Generationen verstärkt. Das müsse sich ändern. In Zürich hat Wettstein dazu das Projekt «va-bene» mitgegründet, das ältere Menschen schult, die sich für andere Ältere einsetzen. Bekannt sind auch Projekte, wo sich ältere Menschen für Junge einsetzen, zum Beispiel als Begleiter von Schulkindern.

Altersweisheit

Wenn sich ältere Menschen so gebraucht fühlen, stärkt dies auch ihren Lebenssinn. Ihre Lebenszufriedenheit steigt. Sie sind «meist voller Kraft, ruhig und gelassen – und nur selten deprimiert», so Wettstein. Denn sie leben nach dem Motto «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst». Und sie können auch die Abnahme der Selbständigkeit, den Verlust von Freunden und das Näherrücken des Sterbens besser bewältigen. «Eine Folge von Altersweisheit», erklärt dazu der Ex-Stadtarzt von Zürich.

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Datum: 02.06.2016
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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