Kommt jetzt das Heil aus den Genlabors?

Während das Unwissen also das Wissen noch bei weitem übersteigt, malen Forschungsleiter und Institutsdirektoren schon das Bild einer schönen neuen Welt gesunder Gene.

Wird die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts zur Ersatzreligion des 21. Jahrhunderts? Im Jahr 2003 wird die Entschlüsselung der menschlichen Gene vollendet sein. Das hat der neue Präsident der Human Genome Organisation Yoshiyuki Sakaki bekanntgegeben. Das "Buch des Lebens" wird 90 Prozent der menschlichen Gene und deren Lokalität auf den Chromosomen beinhalten. Trotz der Komplexität der Gene ist Sakaki zuversichtlich, dass neue genetische Techniken, die auf fehlerhafte Gene zielen, in rund zehn Jahren zur Verfügung stehen.

Schätzungen zufolge besitzt der Mensch rund 30.000 Gene und damit wie erst kürzlich bekannt wurde um rund 20.000 Gene weniger als Reis. Was den menschlichen Organismus trotz der geringeren Genzahl komplexer macht ist bis dato ungeklärt.

Die Nachricht von der möglichen Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes hat schon einmal die Welt in Aufregung versetzt. Alles scheint auf einmal machbar: der Sieg über Krebs und Aids ebenso wie das Hinausschieben des Alters. “Das Ende des Leids” prophezeite die Tageszeitung “Die Welt”. Ebenso euphorisch sagte damals Bill Clinton: “Heute lernen wir die Sprache, in der Gott Leben schuf.” Mit den Verheissungen der Gentechnik verknüpfen Wissenschaftler und Politiker die Erwartung, viele Menschheitsprobleme in den Griff zu bekommen. Die Genforschung scheint Ersatzreligion des 21. Jahrhunderts zu werden.

Gottessohn hinterlässt einen Abschiedsbrief

Jesus steigt vom Kreuz, als er vom Triumph der Wissenschaftler in der Erforschung der menschlichen Gene gelesen hat. Der Gottessohn hinterlässt einen Abschiedsbrief: “Dann braucht ihr mich ja nicht mehr!” Diese in der “Berliner Morgenpost” abgedruckte Karikatur fasst zusammen, wie naturwissenschaftlicher Fortschritt plötzlich ins Religiöse überhöht wird. Das Heil wird anscheinend nicht mehr von Gott erwartet, sondern von den Genlabors. Den künftigen Sieg über Krebs, Alzheimer, Erbdefekte und Alterserscheinungen verkünden die Gen-Gläubigen schon heute. In der Entschlüsselung der Erbinformationen sehen sie die Grundlage, Menschheitsplagen auszurotten.

Zuverlässige Genkarten frühestens 2003

Woher diese plötzliche Euphorie? Geschehen ist in der vergangenen Woche unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nichts. Auch wenn der Zeitpunkt der kompletten Kartierung noch nicht erreicht ist – Forscher halten die Analyse des Erbgutes für einen grösseren Fortschritt, als es die Erfindung des Rades und die Landung auf dem Mond bedeutet haben. Jede Körperzelle enthält in ihrem Kern den Bauplan für den gesamten Menschen.

Aufgereiht wie auf einer Perlenschnur liegen auf 23 Chromosomenpaaren schätzungsweise 40.000 Gene, die wiederum aus insgesamt über drei Milliarden Mini-Bausteinen, den Nukleobasen, bestehen. Davon gibt es nur vier Typen: A, G, C und T. Computergesteuerte Analysemaschinen finden weltweit im 24-Stunden-Betrieb heraus, in welcher Reihenfolge diese Typen plaziert sind. Ist dieser Prozess abgeschlossen, liegen die menschlichen Erbinformationen vor wie ein offenes Buch. Ein Buch allerdings, das in einer Sprache geschrieben ist, die noch kein Mensch versteht. Denn den Aufbau der Erbsubstanz zu kennen, heisst noch nicht, ihre Funktion beschreiben zu können. Welches Gen programmiert welches Körperteil? Sind Variationen im Genmuster immer schlecht? Wie wirken Bausteine aus verschiedenen Abschnitten zusammen? Über all das wissen die Genbegeisterten herzlich wenig. Seit langem ist beispielsweise bekannt, dass Diabetes vererbt werden kann. Das dafür verantwortliche Gen hat man bislang nicht entdeckt. Wissenschaftler mussten in den vergangenen Jahren verblüfft feststellen, dass sich Mäuse, denen sie im Labor ein Gen herausgeschnitten hatten, dennoch prächtig und fehlerfrei entwickelten. Möglicherweise befindet sich demnach in den Chromosomen auch “Datenmüll”.

Das Unwissen übersteigt bei weitem das Wissen

Während das Unwissen also das Wissen noch bei weitem übersteigt, malen Forschungsleiter und Institutsdirektoren schon das Bild einer schönen neuen Welt gesunder Gene. Alles scheint möglich: Künstliche Erbbausteine gegen Aids werden künftig ins Blut geschleust, Alzheimer-Patienten bekommen manipulierte Hirnzellen transplantiert, Krebszellen fressen sich nach Einschleusung neuer Erbmuster einfach selber auf, Gen-geimpfte Transplantationsorgane erzeugen beim Empfänger keine Abstossreaktionen mehr. Den Alterungsprozess können die Zauberer der Labore in Zukunft extrem verlangsamen, da frisierte Gene den Körper jung halten. Der renommierte britische Humangenetiker John Harris rechnet langfristig mit einer Lebenserwartung von sagenhaften 1.200 Jahren. Dagegen wirkt dann selbst Methusalem, der laut Bibel das stolze Alter von 969 Jahren erreicht hat, wie ein allzu jung Verblichener.

Früher haben sich Wissenschaftler über das “biblische Alter” fast totgelacht

Prof. Siegfried Scherer, Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Technischen Universität in Weihenstephan, schmunzelt denn auch über solcherlei Prophezeiungen von Wissenschaftlern. “Dieselben Biologen, die sich vor 50 Jahren fast totgelacht haben darüber, dass die biblischen Patriarchen mehrere hundert Jahre alt geworden sein sollen, wecken nun so hohe Alterserwartungen.” Scherer hält die mit der Genentschlüsselung verknüpften Hoffnungen allesamt für übertrieben. Der menschliche Organismus sei viel komplizierter. Es reiche nicht, in der Erbmasse an einem Schräubchen zu drehen, um Fehler zu beheben. Über das Zusammenspiel von Genen, Organen, Hormonen und Psyche wisse man noch viel zu wenig, so Scherer, auch Vorsitzender der evangelikalen Studiengemeinschaft “Wort und Wissen”.

Die Kirchen beschreiben Faszination und Gefahr

Die EKD und die katholische Kirche sehen den Griff nach den Genen mit gemischten Gefühlen. In Stellungnahmen beschreiben sie einerseits die Faszination des Fortschritts menschlichen Wissens, andererseits die Gefahren. Und die sind grösser, als es die Bio-Industrie zugibt. Der evangelische Theologe und Sozialethiker Martin Honecker (Bonn) nennt es eine Illusion, dass gesunde Gene eine gesunde Welt schaffen. “Unfälle, Morde und Grausamkeiten unter den Menschen wird es weiterhin geben.” Er kritisiert, dass die Wissenschaft inzwischen den Charakter eines Heilssystems bekommen habe. In den 70er Jahren habe man Heil vom Umbau der Gesellschaft erwartet, heute vom Umbau der Gene.

Wird die Genanalyse zum Massstab für “unwertes Leben”?

Ein grosses Problem sehen Honecker und andere Experten beim Rechtsschutz von Personen. Können Arbeitgeber künftig Auskünfte über die Erbsubstanz einfordern, bevor sie jemanden einstellen? Werden Kranken- und Lebensversicherungen einen Gentest verlangen, bevor sie jemanden aufnehmen? Gerade letzteres scheint nahezu unausweichlich, da schon heute das Nichtabtreiben eines behinderten Kindes juristisch als “Schadensfall” bewertet werden kann. Wer wollte Kassen und Gesellschaft die Last für die Versorgung eines Menschen aufbürden, dessen Therapiebedürftigkeit schon bei seiner Zeugung zu lesen ist? Bei dieser Denkweise bleiben Schwache, Erbkranke, Behinderte auf der Strecke. Über Genlabors und Abtreibungskliniken erobern moderne Vorstellungen von Gesellschaftshygiene die Welt. Nicht die Hautfarbe, sondern die Summe der Erbsubstanz könnte zum Gradmesser für “unwertes Leben” werden. Dass das keine Übertreibung ist, zeigt ein Vorschlag des Genetikers und Medizin-Nobelpreisträgers Francis Crick: “Kein neugeborenes Kind sollte als Mensch anerkannt werden, solange es nicht bestimmte Überprüfungen seines Erbgutes bestanden hat. Besteht es diese Tests nicht, hat es sein Recht auf Leben verwirkt.” Im Kabinett Adolf Hitlers hätte Crick mit solchen Äusserungen Gesundheitsminister werden können.

In der “Fortschrittsfalle”

Doch selbst wenn die Erwartungen an die Gentherapie in Erfüllung gingen, könnte Verheerendes daraus entstehen. Der evangelische Theologieprofessor und Krankenhausseelsorger Ulrich Eibach (Bonn) spricht von einer “Fortschrittsfalle”. Der rasante Anstieg der Lebenserwartung würde die Arbeitenden einen bisher undenkbar hohen Prozentsatz ihres Einkommens zur Finanzierung von Alters-, Gesundheits- und Pflegeversicherung kosten. Zu befürchten sei dann eine “gelenkte Sterblichkeit”, eine staatlich verordnete Euthanasie derer, die für die Gesellschaft nicht mehr tragbar erscheinen. Die Vorstufe davon praktizieren die Niederlande bereits heute: Jährlich werden dort tausende alter und kranker Menschen auf Beschluss von Verwandten oder Medizinern ins Jenseits befördert.

Todesgefahr durch Gentherapien

Der Weg zur Unsterblichkeit und ewigen Gesundheit ist indessen noch sehr weit. Erbkrankheiten wie das Nervenleiden Chorea Hungton sind seit Jahrzehnten erforscht – aber immer noch nicht heilbar. Therapien mit veränderten Genen haben bislang eher negative Schlagzeilen gemacht – in den USA sind mehrere Menschen daran gestorben. Die meisten Ethiker befürworten einen Eingriff, der ein kaputtes Gen durch ein intaktes ersetzt (somatische Gentherapie). Ein klares Nein sagen christliche Theologen und Philosophen dagegen zur Keimbahntherapie, die in Deutschland und der Schweiz bisher verboten ist. Dabei wird die Erbmasse des Patienten so verändert, dass die neuen Gene auch auf seine Nachkommen übergehen.

Sollen die Menschen intelligenter oder zufriedener werden?

Einer der schärfsten Kritiker dieser Pläne ist der katholische Philosoph Robert Spaemann (Stuttgart). Seiner Ansicht nach lässt sich überhaupt nicht bewerten, was objektiv “Verbesserungen” des Erbgutes sind. Sollen alle Menschen intelligenter werden? Oder einfach nur zufriedener (was bisweilen auf Kosten der Intelligenz gehen könnte)? Die Erbmasse einer künftigen Generation in den Biolabors zusammenzustellen, bedeutet nach Spaemanns Ansicht eine “unverantwortliche Dominanz der Toten über die Lebenden”. Darüber hinaus müssten Abertausende befruchtete Eizellen – Menschen also im frühesten Entwicklungsstadium – für die Forschung “verbraucht” werden, bis die Keimbahntherapie gesichert funktioniert. Solcherlei Experimente lehnen christliche Ethiker ab.

Gentechnik – ein Privileg für Reiche?

Eines wird der Griff nach den Genen nicht bewirken: niedrigere Kosten im Gesundheitswesen. Die Technik ist teuer und dürfte auf absehbare Zeit nicht in den Katalog der Krankenkassenleistungen aufgenommen werden. Es bleibt eine Technik für Reiche. Der Direkter der US-Beratungskommission für Bioethik, Joseph Howard, hat bereits Alarm geschlagen und die Konzentration auf die Genforschung als “Bedrohung für Amerikas Arme” bezeichnet. Der Erbgut-Entschlüsselung könnte der Ausschluss von Millionen von Menschen aus der Gesundheitsvorsorge folgen. Howard hat recht. Zumal die meisten Menschen auf diesem Planeten mehr Probleme mit schmutzigem Wasser und fehlenden Medikamenten haben als mit defekten Erbinformationen. Sollte die Wissenschaft der Gene tatsächlich zur Ersatzreligion des 21. Jahrhunderts werden, dann wird sie mit Sicherheit eine Charaktereigenschaft haben: Sie wird eine Wohlstandsreligion sein

Datum: 18.04.2002
Autor: Marcus Mockler
Quelle: idea Deutschland

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