Teilen ist heilen

«Jeder ist temporär bedürftig und hat auch etwas zu geben»

«Als Kirche möchten wir die Kultur einer teilenden Gemeinschaft in einer postmodernen Gesellschaft etablieren und leben.» So stellt sich das ICF Mittelland vor. Wie das konkret geschieht, sagt der Leiter dieser speziellen Sozialarbeit, Simon Häseli.
«Teilen ist heilen» ist das Motto des ICF Mittelland.
Simon Häseli vom ICF Mittelland
Sammeltage am ICF Mittelland: Jeder kann was «liegen» lassen.

Livenet: Simon Häseli, schildern Sie uns die Grundzüge Ihrer Sozialarbeit.
Simon Häseli:
«Teilen ist heilen» drückt unsere Grundhaltung aus. Teilen ist in unserem Jahrhundert zu einem Megatrend geworden. Nicht weil die Leute bedürftig sind, sondern weil sie daran Spass haben. Es ist aber auch die Art, wie bereits die erste christliche Gemeinde in der Apostelgeschichte gelebt hat. Wir glauben, dass eine teilende Kirche eine heilende Kirche ist. Sozialdiakonie heisst für uns heilen. Wir wollen die Diakonie aber nicht abdelegieren, sondern sie als Grundhaltung für die Kirche sehen und entsprechende Strukturen aufbauen, sodass sich jeder am Teilen beteiligen kann – zum Nutzen aller. 

Was ist aus der Idee geworden?
Eine der effektivsten Sozialarbeiten im Alten Testament ist das Nachleseprinzip im Buch Ruth. Die Menschen in schwierigen Lebensumständen konnten die Ähren lesen, welche die Erntearbeiter übrig liessen. Damit lösten sie eine vierfache Dynamik aus: Erstens erfuhren Bedürftige dadurch tägliche Versorgung. Dies sicherte ihre Existenz (Stufe 1). Zweitens bezogen sie nicht einfach Almosen, sondern konnten dazu selbst aktiv werden und Arbeit finden. Denn Arbeit verleiht Würde (Stufe 2). Drittens waren die Menschen auf den Feldern zu Dutzenden unterwegs und erleben so Gemeinschaft. Gemeinschaft ermöglicht Integration (Stufe 3). Der vierte Aspekt: Ruth erlebte anschliessend die Gastfreundschaft des Grossgrundbesitzers. Mit Gastfreundschaft erfahren Menschen so etwas wie Familie (Stufe 4). Und wer Familie erlebt, der ist zu Hause! Dies wünschen wir uns für unsere Kirche: dass Menschen Heimat erfahren!

Wie setzen Sie diese Prinzipien um?
Wer eine Familie erlebt, hat Heimat gefunden. Es geht darum, dass wir geben können, was wir übrig haben. Jeder hat Dinge, die er zugunsten von anderen «liegen lassen kann: in seinem Job, seinem Haushalt, seinem Umfeld. Aufgabe der Kirche ist, diese Ressource zu koordinieren und zu verteilen im Sinne der Apostelgeschichte. Viele bei uns haben zum Beispiel ein Bett, das nicht genutzt wird. Wir haben daher das Webhotel gegründet. Wer ein Bett übrig hat, kann es melden, und wer eines braucht, darf es für eine bestimmte Zeit benutzen. Wir coachen dann Nutzer und Gastgeber.

Zweitens haben viele in unserer Kirche kleinere oder grössere Arbeiten zu vergeben, die sie nicht selbst ausführen können oder wollen. Sie können diese Arbeit somit «liegen lassen» und einem Arbeitssuchenden überlassen. Das ist unser Sofortjob-Angebot. Wir arbeiten dazu mit einem professionellen Stellenvermittler zusammen, der auch die nötigen administrativen Dinge erledigt, Arbeitszeugnisse ausstellt und Weiterbildungen organisiert. Erwerbslose machen zum Beispiel im Rahmen von Sofortjob Reinigungsarbeiten zu landesüblichen Mindestlöhnen. 

Was unterscheidet Ihre Sozialarbeit von anderen sozialdiakonischen Arbeiten?
Wir sind der Überzeugung, dass die Kirche soziale Verantwortung weder an christliche Sozialwerke ausserhalb der Kirche noch an den sogenannt sozialen Arbeitszweig innerhalb der Kirche delegieren darf. Soziale Verantwortung gehört zum Grundauftrag der Kirche. Die Menschen sollen eine ganzheitliche Versorgung nach Leib, Seele und Geist erfahren. Das altdeutsche Wort von Himmel heisst «Heime» und bedeutet Heimat. Die Kirche hat den Auftrag, dem Himmel auf Erden ein Gesicht zu geben! Kirche soll für die Menschen «Heimat» sein dürfen.

Soziologische Beobachtungen über die Entwicklung der sozialdiakonischen Arbeit der Kirche in der Schweiz während der letzten 100 Jahre vermitteln mir folgendes Bild: Viele Kirchen haben eine grossartige Sozialarbeit aufgebaut. Mit der Zeit hat sich diese verselbstständigt und wurden zu unabhängigen christlichen Sozialwerken. Die Sozialwerke wurden bekannter als die Kirche. Ein Pfarrer beklagte sich, dass die Kirche zunehmend mit schlechten Schlagzeilen in der Presse kämpfen müsse und fand dies unfair: Niemand wisse und attestiere der Kirche, wie viel Gutes sie neben der Verkündigung z.B. im Sozialbereich bewirke. Kaum einer vermutet hinter vielen christlichen Sozialwerken noch das Engagement einer Kirche, nicht einmal die Bedürftigen selbst, welche diese aufsuchen. Die Sozialwerke der Kirche sind die Hoffnungsträger und nicht die Kirche selbst… wer klingelt denn heute noch an einer Kirchentür, weil er dort Hoffnung wittert? Und wenn, dann macht die Kirche eine «Triage» und vermittelt die Leute an ihre Sozialwerke oder an Fachstellen weiter und schickt die Leute Weg. Das nennen wir abdelegieren, auch wenn es gut gemeint ist. Leute wollen rein kommen und Gemeinschaft erfahren. Sie wollen nicht vermittelt und wieder weggeschickt werden. Wir haben den Verdacht, dass die Kirche an Profil verlor, indem sie einen Teil ihres Auftrages in guten Absichten ausgelagert hat. Diese Entwicklung reflektieren wir mit kritischem Blick.

Wir wünschen uns, dass die Kirche selbst durch ihre sozialdiakonische Arbeit ein Gesicht bekommt und dadurch Hoffnung und Heimat für Menschen werden darf.

Wir arbeiten mit Menschen, deren Existenz nicht gesichert ist (1. Stufe), mit dem Foodbag-Programm. Leute geben aus ihrem Kühlschrank ab, was sie nicht selber brauchen. Auch die Finanzberatung (finance care) geschieht nach dem Ährenlese-Prinzip. Finanzcracks lassen ihre Kompetenz „liegen“ und offerieren kostenlose Finanzberatung. Wir gleisen jetzt ein Tageselternprojekt auf, das Leute anspricht, die einen Platz zuhause übrig haben. Wir vermitteln Tagesplätze an Leute, die sie brauchen.

Was ist bei dieser Arbeit die besondere Herausforderung?
Sie lebt von der Grosszügigkeit und der Freiwilligkeit der Menschen in der Kirche. Wir wollen sie dafür gewinnen und ihnen zeigen, welchen Beitrag sie mit relativ wenigen Mitteln leisten können und was sie als kleines Puzzleteil in einem grossen Ganzen bewirken können. Unsere Herausforderung ist, immer wieder mit Beispielen und Geschichten zu visualisieren, was daraus geschieht. Die guten Geschichten sollen nicht nur im kleinen Kreis von Verantwortlichen bleiben, sondern allen zugänglich sein. Das ist der Motor der Arbeit: wenn die Leute sehen, wie Menschen verändert werden.

Gibt es ein Vorbild für diese Arbeitsweise?

Es gibt Vorbilder, zum Beispiel das Dream Center in Los Angelos hat mich unglaublich inspiriert aus folgendem Grund: Sowohl Gottesdienste und die Sozialarbeit waren von hoher Qualität und postmodern gestaltet. In der Schweiz erlebe ich es oft so, dass eine Kirche entweder Starke in der Sozialarbeit ist und man dafür in den Gottesdiensten einschläft oder umgekehrt. Das Dream Center vereint beide Aspekte in hohem Masse. Wir sind vielleicht ein bisschen Querdenker und hinterfragen, was man vielleicht lieber nicht sollte, vielleicht sind wir auch Vordenker, die vieles ausprobieren und auch viele Fehler machen und ausmerzen. Aber eigentlich sprechen wir hier von nichts neuem, sondern vom Zurückfinden zum eigentlichen Vorbild der Apostelgeschichte 2, gelesen durch die Brille unserer Zeit. Es ist viel Pionierarbeit. Ein Anstoss war auch der Soziologieunterricht am TDS Aarau und dass wir uns als Leitungsteam die Frage gestellt haben, wie unsere Kirche relevanter und Hoffnung verbreiten kann.

Wer kann sich an dieser Arbeit beteiligen?
Unsere Angebote müssen so aufgegleist sein, dass sich grundsätzlich jeder beteiligen kann, der es möchte. Dann geschieht das Teilen aus der Kraft der unglaublich vielfältigen Ressourcen, welche Gott aus meiner Sicht in jede Kirche hineingelegt hat.

Auch Leute, die selbst noch bedürftig sind?

Wir sprechen von temporärer Bedürftigkeit und gehen davon aus, dass alle sowohl Gebende wie Empfangende sind. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man Menschen auf das Hilfe empfangen reduziert reduziert werden. Es spricht gegen die Menschenwürde. Das Ährenleseprinzip aus dem Buch Ruth beschreibt die Alternative. Leute, die bei uns in der Beratung sind, können parallel und gleichzeitig auch andere beraten in andern Bereichen, in welchen sie nicht bedürftig sind. Dann können sie sich vollwertig fühlen. Temporäre Bedürftigkeit ist ein normaler Zustand: Heute unterstütze ich jemanden, morgen brauche ich selbst Hilfe. Es gibt nicht die Sozialfälle und die Anderen. Auch die Mitarbeitenden und Leitungspersonen unserer Kirche sollen in der Lage sein, Hilfe durch anzunehmen. Wer nur Sozialfällen Hilfe anbietet, erreicht nur diese. Wer sie allen anbietet, erreicht alle.

Zur Webseite:
ICF Mittelland

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Datum: 11.06.2015
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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