Gesellschaftsrelevanz

«Fremdelt» die Kirche?

Mit Blick auf eine theologische Tagung zum Thema «Die Zukunft der Kirche in Europa» titelte das evangelische Nachrichtenmagazin idea «Kirchen in Europa fremdeln mit der säkularen Welt». Was steckt dahinter? Und: Wird das Bild vom Fremdeln der kirchlichen Situation gerecht? Ein Kommentar von Hauke Burgarth.
Die Kirche auf Rädern
Prof. Harald Hegstad
Theologe Sake Stoppels

Der norwegische Theologe Prof. Harald Hegstad unterstrich bei einem Internationalen Symposium des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald: Den Kirchen in Europa fällt es schwer, sich in einer säkularen Welt zu behaupten. In einem geschichtlichen Rückblick erklärte Hegstad, dass die europäischen Staaten in der Vergangenheit die Kirchen benötigt hätten, um Moral, gesellschaftlichen Zusammenhalt und nationale Identität zu gewährleisten. Die Kirchen seien zudem für die geistliche und soziale Wohlfahrt einer Gesellschaft wichtig gewesen. Diese Bedeutung schwinde jedoch rapide.

Neue Trennung von Staat und Kirche in Europa

In Norwegen ist das Verhältnis von Kirche und Staat seit 2012 neu gesetzlich geregelt. Der König ist nicht länger Oberhaupt der evangelisch-lutherischen Kirche, auch muss nicht mehr die Hälfte der Regierungsmitglieder der Kirche angehören. Laut Hegstad versuche die evangelisch-lutherische Kirche in Norwegen trotzdem, ihre Rolle als Volkskirche zu erhalten. Wegen schwindender Mitgliederzahl stellte der Theologe allerdings infrage, ob man noch Volkskirche sei, wenn der Anteil einmal unter 50 Prozent sinke. Ähnliches gilt für die Niederlande, wo der Prozess allerdings schon weiter vorangeschritten ist. Der Theologe Sake Stoppels (Amsterdam) berichtete von 30 Prozent Kirchenmitgliedern und nur noch 18 Prozent, die von der Existenz Gottes überzeugt seien. Laut «idea» bedauerte Stoppels: «Viele Kirchen können nicht erklären, was sie glauben.» Darin sind ihnen die übrigen europäischen Christen, auch in Deutschland und der Schweiz, sehr ähnlich. Fehlende Sprachfähigkeit ist ein weit verbreitetes Problem unter ihnen.

Die Kirche tut sich schwer mit der realen Welt

Das 2004 gegründete Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung beschäftigt sich unter anderem mit dieser Sprachfähigkeit bzw. Sprachlosigkeit von Christen. Denn ein fehlender gemeinsamer Wortschatz ist ein Ausdruck der Entfremdung innerhalb unserer Gesellschaft. Und wie viel Berechtigung hat eine Kirche, die ohne staatliche Protektion nicht nur ihre Aufgaben (wie Evangelisation und Diakonie) aus dem Blick verliert, sondern auch ihr Selbstbild? Es scheint tatsächlich, als tue sich Kirche sehr schwer mit der realen Welt.

Sie fremdelt ein bisschen?

In diesem Zusammenhang ist die verniedlichende Überschrift von den «fremdelnden» Kirchen symptomatisch. Sie wird nur leider der Situation nicht gerecht. Fremdeln ist ein durchaus gesunder, kurzer Übergangszustand, bei dem ein Kleinkind anderen mit Angst oder Misstrauen begegnet. Doch die Kirche ist nicht «klein» und das Ganze ist alles andere als ein positiver Entwicklungsschritt. Der Rückzug von Kirche und Gemeinde aus der gesellschaftlichen Realität ist wohl eher vergleichbar mit Altersstarrsinn oder Alterseinsamkeit. Hier passt eine Institution nicht mehr in die Gegenwart.

Ob wir eine Sprache sprechen, die ausserhalb nicht verstanden wird, oder ob wir an alten Formen festhalten, die nicht in unsere Zeit und Prägung passen: Nötig ist ein neues Dasein in unserer Gesellschaft und für sie. Sake Stoppels erklärte das Problem einer zu starken Beschäftigung mit uns selbst damit, dass die meisten Pastoren sich zwar als Hirten und Prediger verstünden, nicht jedoch als Missionare. Rein menschlich müsste man sagen: Kirche hat sich überlebt, daraus wird nichts mehr. Da tut es gut zu wissen, dass Gott Spezialist dafür ist, Totes wiederzubeleben…

Zum Thema:
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Datum: 03.06.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / idea

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