„Solidarität und Religion“. Interview: Georges Schärrer

Solidarität

Immensee. Die Studie "Solidarität und Religion. Was bewegt Menschen in Solidaritätsgruppen?" präsentiert die Ergebnisse eines Nationalfondsprojekts, in dem zwölf Solidaritätsgruppen in der Schweiz untersucht wurden. Die Studie heisst: "Solidarität und Religion. Was bewegt Menschen in Solidaritätsgruppen?", Michael Krüggeler, Markus Büker, Alfred Dubach, Walter Eigel, Thomas Englberger, Susanne Friemel, Peter Voll, NZN-Buchverlag 2002, 46 Franken.

Die Kirche soll Raum schaffen für Menschen, die Solidarität suchen und leben wollen, und dabei auch nichtreligiösen Solidaritätsgruppen Raum zur Verfügung stellen. Das ist eine der Aussagen der Studie "Solidarität und Religion. Was bewegt Menschen in Solidaritätsgruppen?", die im September erscheint. Die Kirche wird zudem aufgefordert, die Grenzen von Solidarität auch innerhalb der eigenen Institution zu erkennen und zu überprüfen, erklärte der Leiter Bildungsdienst der BMI, Markus Büker (37). Büker hat am Projekt mitgearbeitet. Der promovierte Theologe ist Co-Präsident der 400 Mitglieder zählenden Theologischen Bewegung mit Sitz in Luzern.

Interview: Georges Scherrer

Solidarität – was ist darunter zu verstehen?
Markus Büker: Wir haben insgesamt 12 Solidaritätsgruppen untersucht. In einer sind zum Beispiel freikirchliche Christen aus der Schweiz mit freikirchlichen Schweizern in Übersee solidarisch, in einer anderen Gruppe engagieren sich Menschen unabhängig von Konfession, Alter, Nationalität für die Menschenrechte in anderen Ländern; in wieder einer anderen Gruppe besprechen Angehörige von Alkoholikern, wie sie selber ihre schwierige Lebenssituation bewältigen.

Im Laufe der Untersuchung haben wir zwei Aspekte von Solidarität entdeckt: Einerseits basiert diese auf moralischem Handeln, das heisst: Man setzt sich für den anderen, die andere ein. Das kann zum Beispiel aus christlicher Nächstenliebe geschehen. Andererseits ist man gleichzeitig Teil einer bestimmten Gemeinschaft. Solidarität definiert immer auch den Zusammenhalt von Gruppen und Gemeinschaften. Darum haben wir auch untersucht, wie Solidaritätsgruppen sich als Gemeinschaften organisieren. Solidarität schliesst immer auch aus und setzt Grenzen - selbst dann, wenn ein Anspruch auf universale Solidarität erhoben wird. In dem Fall findet eine Abgrenzung von jenen ab, die mit einer bestimmten Teilgruppe solidarisch sind. Solidarität beinhaltet immer die Spannung von Individualität und Gemeinschaft.

Muss Solidarität im Grunde nicht jene Grenzen, die Sie eben definiert haben, überwinden?
Büker: Man muss sich zuerst einmal dieser Grenzen bewusst werden und dann mit ihnen umzugehen suchen. Konkret: Wie gehe ich mit jenen um, die jenseits der Grenzen meiner eigenen Solidarität stehen, und wie setze ich mich gegebenenfalls kritisch von ihnen ab? Solidarität grenzt immer aus. Bin ich mit den einen solidarisch, bin ich mit den anderen nicht solidarisch. Ausgrenzung kann aber Gewalt erzeugen! Verbale zum Beispiel - dies sieht man auch im kirchlichen Zusammenleben.

Für mich persönlich bedeutet Solidarität aufgrund meiner Arbeit bei der Bethlehem Mission Immensee: Afrika südlich der Sahara ist ein vernachlässigter Kontinent. Mit diesen Menschen, die ausgeschlossen sind, möchte ich mich solidarisch zeigen. Auch kirchliche Solidaritätsarbeit sollte immer wieder ihre eigenen Grenzen reflektieren und mit der Tatsache rechnen, dass sie Menschen ausschliesst, die der Solidarität bedürfen.

Kann Solidarität insofern eine Falle sein, als sie als reines Schlagwort dient und zu keinen weiterreichenden Handlungen führt?
Büker: Die Gefahr besteht, dass dieses Wort abprallt, wenn es als moralischer Begriff, der nicht gedeckt ist, stehen bleibt. Das ist bei politischen Aufrufen zu beobachten, wo sich jeweils sehr schnell die entscheidende Frage stellt: Wer ist bedürftig und wer ist betroffen? Solidarität bleibt dann zuweilen ohne Konsequenzen und ist dann ein Schlagwort, wenn nicht an eine gemeinsame Erfahrung appelliert werden kann.

Was heisst "gemeinsame Erfahrung"?
Büker: In unsere Untersuchungen inbegriffen war eine Gruppe von Eltern herzkranker Kinder, die in verschiedenen Ortschaften wohnten. In der Solidaritätsgruppe konnten sie alle auf gleiche oder ähnliche Erfahrungen zurückgreifen. Sie fanden Unterstützung, die ihnen Orientierung im Umgang mit Ärzten, Schulen und der Öffentlichkeit gab, nicht zuletzt auch Ermutigung.

In der Untersuchung wird festgehalten, dass Menschen nur so lange in einer solchen Verbindung stehen, wie sie selber betroffen sind...
Büker: Man muss verschiedene Grade der Solidarität unterscheiden. Es gibt die Trittbrettfahrer, die nur kommen, wenn sie in Not sind. Diese findet man meist bei den Selbsthilfegruppen. Aber auch bei Fremdhilfegruppen gibt es diesen Unruhefaktor - und das war uns vor der Untersuchung gar nicht so klar: Die Mitglieder solcher Gruppen sind von einem Problem betroffen und wollen dieses bearbeiten. Diese Entschlossenheit ist aber fragil. Wesentlich ist schon, dass viele Leute kalkulieren: Solange man etwas nehmen kann, kann man auch etwas geben - und umgekehrt. Das erklärt einen Teil solidarischen Handelns.

Ist diese berechnende Hilfe ein wichtiges Resultat ihrer Untersuchung oder ist es bezüglich der Solidarität vernachlässigbar?
Büker: Es spielt eine Rolle für die Mobilisierung. Ich lasse mich dort mobilisieren, wo ich den Eindruck habe, ich kann auch profitieren. Die Geben-Nehmen-Überlegung taugt als Erklärungsansatz, aber sie erklärt nicht das ganze menschliche Handeln in den Solidaritätsgruppen. Es gibt auch selbstloses Handeln.

Die Hilfswerke verzeichnen zum Teil Rekordergebnisse bei ihren Sammlungen - also muss es in der Schweiz mit der Solidarität gut bestellt sein...
Büker: Was die finanzielle Seite betrifft, lassen sich die Leute für das mobilisieren, wo die Not unmittelbar nachvollziehbar ist. Grosse Kinderaugen und bedrohte Natur sind die beiden Renner im Spendenmarkt. Ist das aber Solidarität?

Wir haben die Qualität und den Einfluss der Religion auf den solidarischen Einsatz für andere und das Zusammenarbeiten untereinander untersucht. Es gibt einen Wandel in den Formen der Solidarität. Die Formen der Solidarität sind heute selbstbestimmter, zeitlich befristeter und projektbezogen: Ich gehe heute nicht automatisch zur Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB), weil ich katholisch bin. Der heutige Mensch kann auch im solidarisch Handeln stärker auswählen .

Wie stark bestimmt Religiosität den persönlichen solidarischen Einsatz?
Büker: Die Fachliteratur verzeichnet zwei Ansätze: Der eine besagt, Religion macht solidarischer, und der andereist, Religion macht unsolidarisch. Aufgrund unserer Untersuchung sagen wir: Weder noch – es ist von Fall zu Fall verschieden. Wir unterscheiden drei Typen. Einen Typ haben wir den Milieu-Typ genannt: Religion und Solidarität gehen zusammen. Die Religion markiert die Grenzen der Solidarität: Katholiken sind mit Katholiken solidarisch, Blinde mit Blinden. Weiter haben wir den Funktions-Typ, wo die Thematisierung von Religion Solidarität zerstören würde. Zu dieser Kategorie gehören Gruppen wie die Eltern herzkranker Kinder, Arbeitslose und auch Dritt-Welt-Solidaritätsgruppen. Der religiöse Aspekt wird ausgeblendet, um sich auf das Problem konzentrieren zu können. Beim dritten, dem Identitäts-Typ, ist es möglich, Religion zu thematisieren. Ein Beispiel: In einer Männergruppe darf ein Mitglied Religion zum Thema machen, wenn es dadurch möglich wird, die Rolle als "Mann" zu bearbeiten.

Ist es möglich, dass viele Menschen heute den Zusammenhang zwischen Kirche und Solidarität in eingeschränktem Mass herstellen, weil die Kirche es an Solidarität gegenüber bestimmten Gruppen, zum Beispiel Geschiedenen, mangeln lässt und Solidarität nach dem Giesskannenprinzip und eigenen Interessen vorlebt?
Büker: Die Menschen nehmen wahr, wenn sich die Kirchen für bestimmte Gruppen einsetzen, zum Beispiel für Erwerbslose. Auch der katholischen Kirche fern stehende Leute stehen positiv zum diakonischen Einsatz der Kirche. Die fehlende Solidarität gegenüber Geschiedenen, Frauen, die Eingrenzung der Zugangsmöglichkeit zum Priesterberuf - all das erzeugt eine grosse Unglaubwürdigkeit, weckt aber wieder neue Solidaritätszusammenhänge. Innerhalb der Kirche gibt es eine grosse Frauensolidarität. Es entsteht eine Gegenbewegung, die traditionelle Grenzen der Solidarität innerhalb der katholischen Kirche zu überwinden versucht.

In welchem Masse können Theologie und Kirche mit nicht kirchlichen Kräften in Wissenschaft und Gesellschaft zur Förderung der Solidarität zusammenarbeiten?
Büker: Unser Projekt ist interdisziplinär. Es hat sich gezeigt, wenn wir als Kirche die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ausschliesslich mit theologischen, sondern auch mit sozialwissenschaftlichen Instrumenten analysieren, kommt es zu einem schärferen Erkennen der Wirklichkeit. Notwendig ist aber auch die Zusammenarbeit mit Solidaritätsbewegungen über den eigenen kirchlichen Rahmen hinaus. Für die Kirche heisst das auch: Sie muss Gruppen Raum bieten, die sich nicht ausdrücklich zur Religion bekennen. Das ist zum Beispiel heute bei Dritt-Welt-Läden bereits der Fall.

Es gibt Solidaritätsgruppen verschiedenster kirchenpolitischer Ausprägung. Es gibt Gruppen, die sich für die Indianer in Chiapas einsetzen, andere die sich der dortigen Marienverehrung zuwenden. Diese Gruppen arbeiten nicht solidarisch zusammen, vielmehr kocht jeder sein eigenes Süpplein...
Büker: Zuerst geht es darum, die Solidaritätsgruppen mit ihren verschiedenen Ansätzen ernst zu nehmen, auch wenn sie sich gegenseitig ausschliessen. Die Verbindung von Solidarität und Religion wird in Milieus erlebt und gelebt. Damit Solidarität und Religion neu entstehen können, sollten die Kirchen Milieubildungen im Spannungsfeld von Milieuverengung und Evangelisierung unterstützen. Wir sagen in der Studie: Ich muss das Gute in den anderen suchen und ihre Anliegen wahrnehmen, auch wenn ich nicht alles gut heissen kann, was in der Solidaritätsarbeit geschieht. Als Theologe will ich zudem prüfen: Was ist mit der Botschaft Jesu vom angebrochenen Reich Gottes verträglich und fördert das Leben aller Menschen auf dieser Erde?

Zusammenhänge aufdecken und Ausgrenzungen in den eigenen Reihen aufheben: Ist das ein Ziel, das sich die Kirche geben kann, um ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zu verbessern?
Büker: Ja, dort wo Solidarität ausgrenzt, und das ist in vielen Solidaritätsgruppen der Fall, die von anderen nichts wissen wollen und in welchen die Mitglieder individuelles Heil in der eigenen Gruppe suchen. Die Studie lädt dazu ein, Solidarität zu bedenken und die Grenzen der Solidarität zu entdecken. Die Kirche hat vielfältigste Sektoren, in denen Solidarität praktiziert wird, zum Beispiel über die Hilfswerke.

Die Kirche hat sicherlich die Aufgabe, Solidarität im Sinn des moralischen Anspruchs je neu zu entwickeln und sie auch einzuklagen. Sie muss sie aber auch in den eigenen Reihen praktizieren.

An verschiedenen Orten in der Schweiz wird über die Kirchensteuer diskutiert. Personen wollen diese nicht mehr bezahlen, aber trotzdem vom kirchlichen Dienstangebot profitieren. Wie weit muss die Solidarität der Kirche reichen?
Büker: Die Kirche muss sich überlegen, wie sie ihren Auftrag definieren will und inwieweit sie selbstlos sein kann. Sie muss Angebote für die sogenannten Trittbrettfahrer bereit halten. Inwieweit sie sich das angesichts der sinkenden Einnahmen leisten kann, ist eine andere Frage. Ich möchte aber vor einem Rückzug auf die überzeugten eigenen Katholiken warnen. Das darf nicht die Perspektive sein. Aber genauso wenig darf es die Perspektive sein: Wir sind selbstlos und die Rekrutierungsproblematik spielt keine Rolle.

Jene, die Dienste annehmen, müssten im Prinzip auch mit jenen solidarisch sein, welche die Dienste anbieten.
Büker: Soweit sie es können und es einsehen.

Datum: 05.09.2002
Quelle: Kipa

Werbung
Livenet Service
Werbung