Der zerrissene Pendler 2 - Die Fabrik

Hauptsache, man funktioniert

Mühsal, Schweiss und Tränen bleiben im Vorort gefälligst unsichtbar. Umgekehrt darf die Begeisterung, welche allein die Mühsal der Menschen von Adams Fluch erlöst, im Bereich des Handels und der Industrie nicht erwähnt werden. Und dies trifft in dem Masse für uns alle zu, in dem die industrielle Revolution die letzten der vorindustriellen Handwerke und Berufe hinweggespült. Wo gibt es noch Büros, Bauernhöfe, Katheder oder Klassenzimmer, in die nicht schon irgendwie die Fabrikatmosphäre eingedrungen ist?

Das Wesen des industriellen Systems liegt, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, darin, dass Arbeitskräfte wie physische Energien nutzbar gemacht werden, um das Höchstmass an Leistung in der Produktion zu erzielen. Dies bedeutet, dass der Mensch in der Fabrik praktisch wie ein unbeseeltes Objekt behandelt wird. Er ist nicht mehr Person, sondern Funktion, ein auswechselbares Rad in einer Maschine, - die Art, wie Arbeiter einander in Schichten ablösen, macht dies besonders deutlich. Das Arbeitsmolekül, dessen sich die Betriebsleitung bedient, besteht aus den zwei, drei oder vier Schichten, die einen 24-Stunden-Tag ausfüllen. Kein ehrlicher Arbeiter wird seinen Zusammenhalt mit dem Mann, der ihm in der Schicht vorhergeht oder nachfolgt, aufgeben. Die Solidarität der Arbeiter gleicht nicht der Loyalität der Fussballmannschaft, sondern eher der Gleichheit jener Wassertropfen, die in dem unendlichen Strom der Tag und Nacht geschehenden Arbeit enthalten sind. Der Triumph der Maschine ist diese Erschaffung einer zweiten Natur, in der nichts als die Naturgesetze vorherrschen. Diese Naturgesetze sind die Gesetze der Energie und Materie, der Rohstoffe und Kräfte - die Arbeitskräfte gehören dazu. Eine Fabrik ist keine menschliche Behausung. Denn ein menschliches Heim beherbergt Mann und Frau, alt und jung, wachende und schlafende, gesunde und kranke, wachsende und alternde, spielende und betende Menschen. Eine Fabrik beherbergt Natur. Und Natur mit einem grossen N hat es mit dem Menschen als Teil einer Kraft oder eines Materials zu tun.

Das Verwässern der Arbeit, dessen sich jeder Industrielle bewusst ist, bedeutet, dass bei der Schichtarbeit sich niemand ganz ausgeben darf oder soll. Jeder muss sich dem Masse beugen, kraft dessen der unaufhörliche Fluss der Produktion in dem 24stündigen Prozess aufrechterhalten werden kann. Man wird "eingesetzt" oder "abgesetzt", so wie Dampf oder Elektrizität an- und abgeschaltet werden. Im Produktionsprozess bin ich ein Teil der Natur und als solcher bin ich nur ich "selbst". Der Stil dieser Natur geht darauf hinaus, alle grossgeschriebenen "Selbste" je nach Wert zu addieren. Daheim sieht es anders aus. Ein Knabe wird hier als seines Vaters Sohn behandelt, eine Frau als ihres Mannes Ehefrau, ihrer Kinder Mutter, ihres Bruders Schwester usw. Aber in der Fabrik ist es gerade umgekehrt das "Selbst", was zählt.

"Da sind dem Leben die Giftzähne ausgebrochen."

Das Zu-Hause spricht mich auf die Werte an, die über mein Alter, Geschlecht oder meinen Stand hinausgehen. Der Vorort ist so süss, weil wir dort eben alle nur menschliche Wesen sind, die in einer ganz realen Uneigennützigkeit aneinander Anteil nehmen können. Das Entweder - Oder von nacktem "Selbst" oder "menschlichem Wesen" ist keine Frage der Ethik oder der guten Vorsätze. Diese Stellungen oder Haltungen werden uns durch unsere Funktionen in einer bestimmten Umgebung aufgezwungen. In dem Vorort werden wir als Glieder einer Familie angesehen. Da sind dem Leben die Giftzähne ausgebrochen. In der Fabrik sind wir Elemente einer Arbeitskraft. Da sind wir einkalkuliert. So wird uns nur eine kaltblütige Analyse des Unterschieds zwischen diesen beiden Ansammlungen den SchlüsseI dazu in die Hand geben, wie es zu dem seltsamen Schauspiel kommt, dass der Mann in der Stadt und im Vorort einmal als "Selbst" und zum andem als "Mann mit Familie" behandelt wird. Im Schichtwechsel des Fabriksystems erreicht diese Kluft ihre Vollendung. Denn in der Fabrik wird das "Selbst" dazu benutzt, eine Verbindung zu bilden; das Arbeitsmolekül und die innere Kohäsion dieses Moleküls verlangt von seinen Elementen, alle persönlichen Belange zu vermeiden, besonders das Streben und den Ehrgeiz.

"der seiner Familie entkleidete Mensch"

Nun, wir können vor den Wundern der modernen Produktion nur den Hut abnehmen. Ich beklage nicht sentimental die Tatsache dieser Situation. Nichtsdestoweniger langweilen mich die Leute, die nicht den daraus folgenden, tiefgreifenden Wandel in den Wegen des Menschen sehen wollen. Es ist der seiner Familie entkleidete Mensch, der die Fabrik betritt. Und es ist die Familie, in der der Mensch zuerst seinen Namen bekommt - und der er später seinen Namen gibt. Aus diesem Erhalten und Ausgeben unseres Namens besteht der Vorgang der Beseelung. Und dieser Vorgang fehlt, ganz natürlich, in der Massenproduktion. Die Ansprüche der technischen Leistungsfähigkeit verlangen, dass die Fabrikarbeit mehr und mehr automatisch erfolgreich und unaufhörlich wird. Aber in der automatischen Arbeit gibt es keine Seele, denn wenn die Dinge Seele haben sollten, müssten sie kommende Dinge sein; so gibt es "Seele" im Leben des einzelnen Handwerkers, der die Freuden und Schmerzen der Ungewissheit über den Ausgang seines Tuns erlebt. Die Fabrik behält dieses Privileg einigen wenigen Wissenschaftlern, Ingenieuren und Managern vor. Und der Druck auf fortwährende Produktion bedeutet, dass sogar diese Männer wie wir alle Sklaven ihres Terminkalenders werden. Schwankende Konjunkturen bedeuten weiterhin, dass weder die Fabrik noch die Beschäftigung eines einzelnen in ihr mit Sicherheit längere Zeit hinaus besteht. Die Fabrik zerhackt unser Leben in kleine Zeitabschitte, und diese werden von einer radikalen Unstetigkeit infiziert. Sie ist kein Heim oder Zuhause, in dem die Menschen zusammenarbeiten, spielen und essen und wo die Generationen aufeinander folgen, sondern eine ihrem Wesen nach unvollständige und vorübergehende Einrichtung.

"Wir kommen freudlos und gehen leidlos."

Daraus ergibt sich, dass die Arbeit des modernen Menschen nicht länger eine Lebensaufgabe ist, der er sich ganz hingeben und durch die seine Persönlichkeit reifen und Gestalt annehmen kann. Der schelle Wechsel der Arbeit macht ihn wendig. Ich kenne einen Monteur, der mit 32 Jahren schon mehr als 50 verschiedene Arbeitsverhältnisse gehabt hatte, und andere mir bekannte junge Männer sagten mir, dass so etwas gar nicht selten vorkommt. In den Tagen des Neuen Testaments waren das Eingehen und Auflösen von Bindungen äusserst bedeutsame Ereignisse, die nur ein- oder zweimal im Leben vorkamen. Die Schlüsselgewalt, die traditionsgemäss dem heiligen Petrus übertragen worden ist, ist das Symbol für die Ehrfurcht, die diesen Ereignissen entgegengebracht wurde.

Heute sind radikale Änderungen an Leib und Seele und in der Umgebung so häufig geworden, dass wir sie nicht mehr so tief im Innern fühlen und sie nicht mehr als Geburts- und Todesereignisse ansehen. Die Tragödie ist zu einer langen Reihe von Enden und Anfängen verdünnt worden.

So lehrt man uns, alle menschlichen Beziehungen auf die leichte Schulter zu nehmen. Die modernen Arbeitsbedingungen zehren an jenen Reserven, die es uns ermöglichen, in menschliche Gemeinschaften hinein- und wieder herauszuwachsen. Die Umstellungen gehen so schell vor sich - wer sollte da von uns erwarten, dass wir uns beim Hinzutreten oder Davongehen in irgendeine Angelegenheit mit ganzem Herzen einlassen ? Wir zahlen mit Oberflächlichkeit für bequeme Umstellung; die Häufigkeit beseitigt tiefere Gefühle; wir kommen freudlos und gehen leidlos.

Folglich verkümmert die Persönlichkeit. Das übliche Reifen durch Freud und Leid kann nicht länger den ganzen Menschen ergreifen. Niemand kann in einer Leere, sondern nur in Beziehungen zu anderen Menschen Person werden, und wer von diesen Beziehungen auf die Dauer unberührt bleibt, der bleibt kindisch und unentwickelt. So schliessen wir von Arbeit und Musse nicht nur überflüssige Schmerzen aus, was ja ganz richtig ist, sondern auch die Wachstumsschmerzen, was ganz falsch ist. Jesus verweigerte am Kreuz die Flüssigkeit, die seine Qualen gelindert hätte. Wer versteht denn heutzutage überhaupt noch diese Weigerung?

Verhinderte persönliche Reife

Die grösste Versuchung unserer Zeit ist die Ungeduld in ihrer vollen ursprünglichen Bedeutung: die Weigerung zu dulden, auszuharren und zu leiden. Wir scheinen den Preis nicht länger zahlen zu können, der für das Leben in schöpferischen und tiefgreifenden Verbindungen unter den Menschen nun einmal gezahlt werden muss. Vom Heiraten bis zum Lehren, von der Regierung bis zum Handwerk, sind im Maschinenzeitalter die Beziehungen von Mensch zu Mensch zerpflückt, mit Ungeduld belastet und "freibleibend". "Freibleibend" oder "unverbindlich" sein heisst, alle Verbindungen von bedeutsamen Folgen freihalten, sie ihres produktiven, fruchtbringenden Wertes berauben. Denn auf der langen Lebensreise treffen wir ja so viele Menschen, dass wir gar nicht das Risiko auf uns nehmen möchten, irgendeinem von ihnen anzugehören. So wie wir Weizenbrot ohne Weizen essen und Kaffee Hag trinken, so lieben wir, ohne Kinder zu bekommen, haben Freundschaften ohne Begeisterung, Schulen ohne Nachfolgeschaften, Fabriken ohne Kunstfertigkeit, Regierungen ohne Nachfolger. "Was nun?" echot es bei jeder Anstrengung auf dem steinigen Grund unserer Städte. Viel Getue und nicht eine Maus dabei geboren. Alles geht gar so schneIl vorüber. Wir haben keine Zeit.

Mit Vollgas durchs Leben

Jene wurzellose, rhythmuslose Durchdringung unseres Lebens durch die Fabrik spiegelt sich in dem allgemeinen sprunghaften Tempo unseres modernen Lebens wider. Unser Dasein ist eine ununterbrochene Unterbrechung. Im Büro werden die Gedankengänge durch das Telefon abgehackt; zu Hause dreht irgend jemand am Radio; die neuesten Nachrichten werden zu einer Art Betäubungsmittel wie etwa die Zigaretten. Wir werden zu NervenbündeIn, die auf rote und grüne Lichter mit einem "Vorwärts" oder "Stop" reagieren. Wir sind besessen von der Geschwindigkeit um jeden Preis, wir leben ständig wie auf einer grossen Autobahn, an der die Welt wie im Kino vorüberflitzt. Ein guter Freund von mir fuhr mehrere hundert Meilen, um mich zu besuchen. Er hatte sich auf ein Wiedersehen gefreut; aber nachdem er endlich angekommen war, wollte er nach zehn Minuten bereits wieder aufbrechen! Die Sucht des modernen Menschen nach Allheilmitteln und Abkürzungen drückt sich in seiner Versuchung zur Ungeduld aus. Er versucht, dem nervenzerreissenden Tempo durch irgendein Sicherheitssystem zu entgehen. Er sucht irgendeine endgültige Lösung für all die Probleme, eine Lösung, die ihn zu einer gutlaufenden Maschine, zur Biene oder Ameise macht. So werden von Männern wie Marx, Hitler oder Huxley Ideen verkündet - klassenlose GeseIlschaft, 1000 Jahre unter dem Hakenkreuz, eine "tapfere neue Welt" -, mit denen die Geschichte ein Ende nähme. So ruft dann Joyce's Ulysses aus: "Geschichte ist der Alptraum, den ich von mir schütteln muss."

So wie in vorhergegangenen Jahrtausenden christlicher Geschichte sich Männer gefunden haben, die erst den Einen Gott und dann die Eine Erde bezeugt haben, so müssen wir jetzt drittens Gottes Eine Zeit finden, bezeugen und für sie gegen die Privatpläne kämpfen, die sich ungeduldige Mensmen für das Abstoppen aller Geschichte ausgedacht haben. Solche privaten Programme, die über Nacht das Ende der Geschichte herbeirufen, verleugnen den christlichen Glauben an ein göttliches Walten in der Zeit, indem nämlich Gott selbst von Anfang bis Ende für seine Welt sorgt.

Selbstverständlich wird und soll die maschinelle Industrie bestehen bleiben. Es ist unerwünscht und auch unmöglich, die Uhr auf das sechzehnte Jahrhundert zurückzudrehen. Den bösen Mächten des modernen Lebens können wir auf solche unwirkliche Art nicht aus dem Wege gehen. Sie sind viel eher eine Herausforderung an uns, konstruktive Mittel und Wege zu finden, um die unfruchtbare Trennung von Arbeit und Leben zu überwinden, um uns der Abfolge von Wandlungen zu bemächtigen, in welche die industrielle Gesellschaft jedes einzelne Leben hineinzwingt.

Fortsetzung des Artikels: Der zerrissene Pendler 3 - Die Seele auf der Autobahn

Datum: 25.03.2002

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