Gut begründete Toleranz

Eine nur oberflächlich verstandene Toleranz birgt jedoch auch politische Gefahren. Wie begründen wir also mit diesem genauer auf sich?

"Tolerantes Ehepaar sucht gleichgesinntes Paar zwecks gemeinsamer Freizeitgestaltung." Der Sinn des Begriffes Toleranz in dieser Annonce ist recht schillernd; vermutlich handelt es sich um eine versteckte Anfrage nach Partnertausch oder Gruppensex. Mit Toleranz kann im heutigen Sprachgebrauch sehr Unterschiedliches gemeint sein.

Toleranz packt an

Sprachlich stammt das Wort Toleranz von lat. tolerare, was soviel wie "tragen, ertragen" bedeutet. Mit Toleranz eng verwandt ist tollere, das "aufheben, in die Höhe stemmen" bedeutet; toleno ist der Hebekran. Den lateinischen Worten tolerare und tollere sowie dem deutschen "dulden" liegt eine gemeinsame indogermanische Sprachwurzel zugrunde, nämlich der Stamm "tel". Dieser Begriff hat eine aktive Grundbedeutung. Es meint wörtlich "mutiges Aufsichnehmen von Druck" oder "aktive Bereitschaft, sich Lasten aufpacken zu lassen".

Toleranz hat also nichts mit passivem Erdulden, Resignation oder Zurückstecken zu tun, sondern mit aktivem Mut; Toleranz meint nicht Schwäche, sondern Kraft. Es geht nicht um ein "Laisser-faire", sondern um energisches Zupacken. "Mutiges Aufnehmen von Lasten", das muss der Massstab sein, an dem wir Toleranz messen.


Keine Frage der Toleranz

Schüler meiner Chemieklasse stehen in einer Prüfung vor der Frage, welches Element für die organische Chemie zentral sei. Wenn ein Schüler darauf mit Silizium antwortet, dann muss ich ihm das als falsch anstreichen. Wenn er den Einwand vorbringt, Silizium stehe doch im Periodensystem gerade unter Kohlenstoff, ich solle doch etwas grosszügiger oder eben toleranter sein, dann muss ich der Sache und der Wahrheit zuliebe seine Antwort dennoch als falsch einstufen.

Hier wird deutlich, dass Toleranz nichts zu tun hat mit Fragen, die man in einem Lehrbuch nachschlagen kann. Toleranz bezieht sich nicht auf Wissensfragen bzw. auf objektiv nachweisbare Fakten. Sie bezieht sich auf Gewissensfragen, auf letzte Überzeugungen, auf die persönlichen Axiome oder Glaubensinhalte. Wenn jemand sagt: "Ich bin überzeugter Buddhist" und ein anderer bekennt: "Ich glaube an Jesus Christus", dann ist das dornige Feld der Toleranz erreicht, denn hier geht es um Gewissensfragen. Vielleicht können wir uns in der Sache auch nach heftigen Diskussionen nicht einigen. Was bedeutet hier Toleranz?

Das Leiden der Toleranz

Toleranz heisst nicht Positionslosigkeit im Sinne von: "Ich habe recht, und du wirst wohl auch recht haben." Toleranz heisst auch nicht, dass beide Parteien im Sinne des Skeptikers sagen: "Nun wissen wir's, man kann die Wahrheit gar nicht erkennen." Schliesslich bedeutet Toleranz auch nicht: "Ist ja egal, was wir glauben, wichtig ist nur, dass wir es aufrichtig meinen" (nach Lessing). Toleranz erlaubt mir auch nicht, dass ich die Türe zuknalle und verächtlich meine: "Der andere ist doch einfach viel zu blöd. Mit dem rede ich einfach nicht mehr."

Echte Toleranz leidet an der Trennung und unterscheidet immer zwischen der unterschiedlichen Meinung zu einer Frage der Überzeugung und dem Menschen, der diese andere Meinung vertritt. Die Meinung darf ich bekämpfen, den Meinungsvertreter nie; auch seine Freiheit zur Meinungsäusserung darf ich nicht einschränken. Wer eifrig für eine Überzeugung eintritt, darf nicht intolerant gegen den Vertreter einer anderen Meinung vorgehen.

Echte Toleranz muss erkämpft werden. Sie ist in der Freiheit der Person begründet, der es zusteht, über Wahr und Falsch, über Gut und Böse, aus eigener Einsicht zu urteilen. Zudem gründet sie in der unbestreitbaren Tatsache der Irrtumsfähigkeit des Menschen. Toleranz ist ein Ausdruck der Gerechtigkeit, die jedem gibt, was ihm gebührt, und den Irrenden bzw. für irrend gehaltenen Menschen schützt. Dieser hat das Recht auf Überzeugung, die auf eigener Einsicht beruht, wobei ein Irrtum gegebenenfalls in Kauf genommen werden muss.

Geschichte der Toleranz

Die abendländische Toleranzidee geht auf das Menschenbild des antiken Humanismus und auf das Christentum zurück.

Während ursprünglich die antiken Grossreiche den unterworfenen Völkern ihre Sieger-Götter aufzwangen, führte später der Einfluss der griechischen Stoa dazu, dass die abhängigen Völker mit ihren Göttern toleriert wurden. Es handelte sich aber um eine relative Toleranz: Nur die jeweiligen Völker mit ihren Göttern wurden toleriert, nicht aber die individuellen Bekenntnisse.

Da die Christen nicht nur Volksgötter, sondern den einen Gott und Erlöser aller Völker und Menschen verkündeten, gerieten sie in Konflikt mit der synkretistischen Toleranz des römischen Reiches. Das führte bis zum Toleranzedikt von 313 zu periodisch auftretenden Christenverfolgungen.

Nachdem die Kirche Reichskirche geworden war, ging sie selbst zu einer intoleranten Religionspolitik über. Leitgedanke war die Einheit des politischen Reiches und der Kirche. Die Abtrünnigen des eigenen Glaubens wurden streng verfolgt, ab dem12. Jahrhundert mit der Inquisition, während Nichtchristen in engen Grenzen Toleranz erfuhren. Erst die Reformation brachte den Durchbruch zur Freiheit des individuellen Bekenntnisses und Gewissens.

Luther nahm den Toleranzgedanken nicht aus politischen oder philosophischen Erwägungen ernst, sondern aus der theologischen Erkenntnis, dass der Glaube ein Geschenk Gottes ist: "Über die Seele kann und will Gott niemanden lassen regieren, denn sich selbst allein." Dies bedeutet: Glaube kann nicht erzwungen werden, weder von Menschen noch vom Staat, auch nicht von der Kirche. Das Wesen des Glaubens wird in seiner Substanz angetastet, wenn jemand dazu genötigt wird. Als man 1543 in Basel Bedenken hatte, den Koran drucken zu lassen, setzte Luther sich dafür ein, dass diese Bedenken aufgegeben wurden. Politisch setzte sich die Toleranz jedoch erst nach den Glaubenskriegen und unter dem Geist der Aufklärung durch.

Die abendländische Toleranz beruht auf der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Kirche und Staat. Gott allein ist absolut, alles Menschliche ist relativ. Die politische Gemeinschaft ist keine Glaubensgemeinschaft, die Glaubensgemeinschaft darf nicht politischen Charakter annehmen. Dazu kommt als drittes Element die Gemeinsamkeit aller Menschen.

Richtig verstandene Toleranz setzt diese fundamentalen Lehren über das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch voraus. Wo diese Einsicht verloren geht, wird Toleranz auf Dauer gefährdet. Es entsteht eine oberflächliche Form, die schliesslich zerfällt und in Intoleranz umschlägt.

Falsch verstandene Toleranz

Eine Spielart von falsch verstandener Toleranz ist die Verachtung durch den Philosophen. Der Preussenkönig Friedrich der Grosse wird wegen seiner Toleranz gerühmt. Er sagte selbst ganz stolz: "Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Juden und zahlreiche andere Sekten (!) wohnen in Preussen und leben friedlich beieinander." In seinem politischen Testament erklärte Friedrich der Grosse 1752: "Geht man allen Religionen auf den Grund, so beruhen sie auf einem mehr oder minder widersinnigen System von Fabeln.

Ein Mensch von Verstand, der diese Dinge kritisch untersucht, muss unfehlbar ihre Verkehrtheit entdecken. Allein: Diese Vorurteile, Irrtümer und Wundergeschichten sind für die Menschen gemacht, und man muss auf die grosse Masse so weit Rücksicht nehmen, dass man ihre religiösen Gefühle nicht verletzt, einerlei, welchem Glauben sie angehören." Diese Ansicht steht hinter dem berühmten Satz von Friedrich: "Jeder kann in meinem Reich nach seiner Fasson selig werden." Friedrich ist also der Meinung, dass jede "Fasson" nur eine Variation von Dummheit sei. Das ist die Sprache der Verachtung, und zwar nicht nur den Religionen, sondern auch den Menschen gegenüber. Sie sind nur eine einfältige Masse, im Grunde sind sie nichts als Narren. Und was muss man Narren gewähren? - Narrenfreiheit! Dies aber ist nicht Toleranz.

Eine andere Spielart falsch verstandener Toleranz geht auf die fortschreitende Individualisierung der Lebensverhältnisse zurück: Jeder soll tun und lassen können, was er will. In unserer Gesellschaft herrscht zunehmend ein ethischer Relativismus. Bin ich der Intolerante, wenn ich die Musik des Nachbarn nicht mithören will, der bei offenem Fenster Techno hört? Oder ist er es? Ohne gemeinsame Werte und Überzeugungen können wir das gar nicht mehr entscheiden. Individuelle Entfaltung ist nur möglich auf der Grundlage eines Sets von Gemeinsamkeiten, die nicht zur Disposition stehen. Wo jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt, ist die Gemeinschaft gestört. Toleranz dieser Art führt auf Dauer zu Anarchismus. Der Stärkere wird sich auf Kosten des Schwächeren durchsetzen. Das darf aber nicht der Endpunkt einer oft falsch verstandenen Toleranz sein. Wenn in einer Gesellschaft nur noch individuelle Freiheit oder, direkter gesagt, das Durchsetzen der eigenen egoistischen Interessen und vielleicht noch die Frage nach der Wirtschaftlichkeit absolut geltende Werte sind, dann kann über kurz oder lang keine Toleranz überleben.

Mangel als Tugend

Toleranz wird manchmal auch mit Gleichgültigkeit verwechselt, einem Mangel an Überzeugung. Auf diese Weise kann kein verantwortliches Engagement entstehen. Eigentlich wird in diesem Verständnis ein Mangel zur Tugend erhoben. Ein Positionsloser kann aber gar nicht tolerant sein. Dies macht die folgende Anekdote deutlich. Zwei streitende Sippen kommen vor den Kadi. Der hört sich zuerst die eine Partei genau an und sagt nach langem Nachdenken im Brustton der tiefen Überzeugung: "Ja, zweifellos, Sie haben recht." Am nächsten Tag trägt die andere Partei ihre Argumente vor. Am Schluss verkündet der Richter auch hier: "Ganz gewiss, Ihr habt recht." Nun ist aber der Sohn des Richters empört über seinen Vater, als ihm das zu Ohren kommt: "Wie kannst du hier beiden recht geben? Beide behaupten doch das glatte Gegenteil!" Darauf klopft der Vater seinem Jungen auf die Schulter und sagt: "Natürlich, mein Junge, da hast du ganz recht." Echte Toleranz setzt gerade nicht die gleiche Meinung und Überzeugung voraus.

Eine vierte oberflächliche Form der Toleranzforderung begnügt sich mit dem Formalismus einer abstrakten Idee. Das Motto heisst dann: "Was im einzelnen geglaubt wird, ist nicht entscheidend, Hauptsache, man setzt sich für etwas ein." Ein Gespräch über das, was wahr, gültig oder gerecht ist, fällt damit aber aus. Ein echter Skeptiker, der glaubt, nichts mit Gewissheit wissen zu können, muss im eigentlichen Sinn des Wortes nichts tolerieren. Die Probleme beginnen dort, wo diese Skeptiker, die im Sinne von "es gibt nichts Gewisses" alle Wahrheit relativieren, sich selber widersprechen und behaupten: "Ich weiss mit Gewissheit, dass es nichts Gewisses gibt. Alle, die das nicht glauben, und eine absolute Wahrheit postulieren, sind intolerante Besserwisser." Diese Haltung begegnet mir oft an der Universität. Wenn ich dann etwa an der Erkennbarkeit von absoluten Werten und von Wahrheit festhalte, erlebe ich oft verbale Intoleranz.

Gefährdete Toleranz

Weil in unserer Gesellschaft der Toleranzbegriff so positiv besetzt ist, werden sogar die oben genannten, billigen Toleranzverständnisse positiv gewertet. Man meint, oberflächliche Toleranz sei besser als keine. Dabei wird jedoch übersehen, dass oberflächliche Toleranz der Intoleranz den Weg bereitet.

Beispielsweise werden in einem Gremium alle Meinungen "tolerant" angehört, dann aber wird die Entscheidung im Sinne derer getroffen, die Macht haben. Das tolerante Anhörungsverfahren führt hier nur zur Verschleierung der Machtverhältnisse.

Ein anderes beliebtes Mittel, Intoleranz als Toleranz auszugeben, besteht darin, bestimmten Begriffen das Kennzeichen der "Intoleranz" aufzustempeln. Diese Begriffe werden dann als Schlagwörter benutzt, um Vertreter einer missliebigen Meinung anzuschwärzen. Dies geschieht gegenwärtig mit dem Sammelbegriff "Fundamentalismus". Wer eine klare Haltung einnimmt, egal welchen Inhalts, wird als "Fundamentalist" bezeichnet und somit als intolerant abgelehnt. Im Namen der Toleranz wird häufig Intoleranz ausgeübt.

Dieser Prozess ist in der Öffentlichkeit bedenklich weit fortgeschritten. Kennzeichen dafür sind Gleichgültigkeit, fehlende Verantwortung für die Gesellschaft, mangelnde Zivilcourage und das rücksichtslose Durchsetzen der eigenen Interessen. Oft werden auch Denkverbote aufgerichtet: Wahrheiten dürfen nicht mehr ausgesprochen werden, weil sie als "intolerant" gelten. Ein solchermassen mangelhaftes Toleranzverständnis darf keineswegs hingenommen oder gar als positiv bewertet werden. Es ist nötig, die Toleranz in ihrer Tiefe und Fülle von ihrer Wurzel her wiederzugewinnen: "Toleranz (von lat. tolerare, dulden) ist die Haltung eines Menschen, der bereit ist, die Überzeugung anderer, besonders weltanschaulicher oder moralischer Art, die er für falsch oder verwerflich hält, und ihre Äusserungen nicht zu unterdrücken."

Diese Definition besagt weder die Billigung aller Überzeugungen noch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahren und Guten, noch beruht sie notwendig auf einem Agnostizismus. Tolerant kann also nur jemand sein, der eine klare Überzeugung hat. Persönliche Überzeugung und Gewissheit ist eine wichtige Wurzel von Toleranz.

Politische Ablehnung von Toleranz

Eine weitere Bedrohung kommt politisch eindeutig von rechts. Hier werden die Grundlagen der Toleranz an sich in Frage gestellt und damit natürlich auch jede Form von Toleranz. Führende Theoretiker der neuen Rechten sehen gerade im Gleichheitsgedanken aller Menschen die grosse Gefahr für die Weiterentwicklung der Menschheit. Und die jüdisch-christliche Tradition wird als hauptschuldig an der Entstehung der egalitären Wertesysteme angesehen. Die Sozialbiologie zeige doch, dass die Menschen nicht gleich sind, und es sei Aberglaube, an die gleiche Würde aller Menschen zu glauben.

Dem jüdisch-christlichen "Gift der Gleichheit" stellt die "Neue Rechte" die biologische Determiniertheit entgegen. Wahr und recht ist das, was sich in die Lage versetzt zu existieren und zu überleben. Es gilt das Recht des Stärkeren. Den Schwachen zu schützen sei also widernatürlich und hindere die Entwicklung der Menschheit. Die Entwicklungshilfe sei unnatürlicher Eingriff in die völkische Identität eines Volkes, was eine natürliche Selbstauslese verhindere und auf diese Weise zum Völkertod führen müsse. Weiter wird im Blick auf Europa ungefähr wie folgt argumentiert: Da die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Solidarität letztlich ein Stück des semitischen und damit eines uneuropäischen Erbes darstellten, also nicht auf unserem Boden gewachsen seien, müsse man sie ablehnen.

Damit werden auch die drei Kinder dieses Erbes verworfen: einmal das Christentum als Erbe des Judentums mit seiner Idee von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, der Liberalismus als Erbe des Christentums mit seinem Prinzip der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Sozialismus mit der Forderung nach sozialer Gleichheit aller Menschen. Ebenso abzulehnen sei die Demokratie. Weil die Demokratie mit dem Gleichheitsprinzip zusammenhänge, sei die Demokratie für Europa eine fremde Weltanschauung. Die Kulturrevolution von rechts will die raumfremden Mächte verdrängen und an ihre Stelle die eigenen Wurzeln, Werte und Anschauungen setzen. Die Identität Europas müsse sich weltanschaulich an der Ungleichheit der Menschen orientieren, dies mit der Konsequenz der Eliteherrschaft weniger Führer.

Hier stehen sich letztlich zwei Glaubenssysteme fast diametral gegenüber. Das christlich-biblische Glaubenssystem, das unser Denken bis heute geprägt hat, sprengt die Grenzen der Biologie oder einer Blut-und-Boden-Ideologie. Die biblisch-christliche Sicht gelangte gerade in Ablehnung der biologischen oder geographischen Unterschiede zur Überzeugung von derselben Würde aller Menschen, mehr noch: Die biblische Tradition erklärt das zum Maßstab für Humanität, was gerade dem Schwächsten dient und nicht beim biologisch Stärksten. Die andere Seite gibt der biologischen Determinierung das letzte Wort. Das Recht des Starken gilt, das Schwache muss verschwinden.

Mit dieser weltanschaulichen Basis erübrigt sich jede Toleranzforderung. Angesichts dieser Herausforderung, die von zwei Seiten auf die Toleranz zukommt, reicht es nicht aus, immer wieder nur auf die Postulate der Solidarität und der Toleranz zu verweisen. Vielmehr steht die Grundlage der Solidarität und Toleranz zur Diskussion. Auch Christen müssen sich die Kraft zur echten Toleranz und Solidarität mit den Schwachen immer wieder neu schenken lassen. Noch mehr: Gefordert ist eine radikale Orientierung der Christen an ihrem Lehrmeister, Jesus Christus.

Die Toleranz von Jesus

Können wir uns in dieser Frage überhaupt an Jesus orientieren? Ist nicht gerade der Satz von Jesus: "Ich bin die Wahrheit" der Sprengsatz aller Toleranz? Jesus behauptet ja nicht nur: "Ich sage wie ein Prophet die Wahrheit" oder: "Ich habe und vermittle die Wahrheit wie ein Guru." Jesus behauptet: "Ich bin die Wahrheit. Ich bin sie in Person."

Untersuchen wir diese Aussage auf ihre Toleranzfeindlichkeit. In den meisten Religionen kann man Person und Sache voneinander trennen. Als der Prophet Mohammed starb, kam niemand auf den Gedanken, von einer Auferstehung Mohammeds zu reden. Das war auch gar nicht nötig, denn alles, was an Mohammed, dem Propheten, wichtig war, ging über in "die Sache": das heilige Buch. Der Koran fasst die Sprüche des Propheten zusammen als den offenbarten Willen Allahs. Deshalb konnte Mohammed getrost sterben. Der Koran nahm seine Stelle ein und ersetzte ihn voll und ganz.

Es ist charakteristisch: Die Christen glauben an Jesus; die Anhänger des Islam glauben wie Mohammed, von ihm angeleitet. Christen nennen sich nach dem Namen ihres Herrn, sie sind Christusleute; die Anhänger des Islam heissen Muslime (auf deutsch: Moslems), d.h. Leute, die sich (Allah) unterwerfen. Sie würden sich niemals "Mohammedaner" nennen. Auch bei Buddhas Tod wird der Unterschied deutlich. Die Jünger fragen: "Was nun, Meister?" Buddha antwortet: "Ihr habt doch meine Lehre. Mich braucht ihr nicht länger." Die Sache des Religionsstifters geht auch weiter nach seinem Tod. Bei Jesus ist das ganz anders. Er bindet die Menschen an sich, an seine Person, und nicht an eine Lehre: "Folget mir nach, ich bin das Leben."

Christlicher Glaube bedeutet also zunächst nicht, dass ich irgendwelche Aussagen für wahr halte. Dhristlicher Glaube bedeutet Bindung an eine Person. Das hat einige wichtige Konsequenzen. Der Satz Jesu "Ich bin die Wahrheit" ist nur sinnvoll, wenn Jesus lebt. Deshalb hängt im Glauben der Christen alles an Ostern. Lebt er so, dass wir heute mit ihm sprechen können, dann ist es lohnend, sich seinem Anspruch zu stellen. Ist er hingegen im Grabe vermodert, gibt es als Nachlass nur ein paar schöne Sätze, die genauso unglaubwürdig sind wie ungedeckte Schecks. Dazu gehört auch die Behauptung, er sei die Wahrheit, gültig zu jeder Zeit und für alle.

Im zwischenmenschlichen Bereich bietet das Gesagte aber eigentlich kein Problem für echte Toleranz. Wenn der eine Christ ist und der andere Moslem, dann können beide an ihrer Glaubensüberzeugung festhalten und einander als Menschen verschiedener Glaubensauffassung dennoch tolerieren. Die Toleranz fordert nicht, dass beide ihre Position aufgeben, sondern nur, dass beide zu ihrer Position stehen, sie propagieren und ihr nachleben dürfen, wenn damit nicht die Rechte des anderen tangiert werden oder das anerkannte Set von gemeinsamen Werten.

Wie hat jener, der von sich behauptet, er sei in Wahrheit Gott, die Toleranz ausgelebt? Im Text der lateinischen Messe heisst es: "Agnus Dei, qui tollis pecata mundi - Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt." - "Qui tollis": Da begegnet uns das Wort "tollere", eine Wurzel des Toleranz-Begriffes. Wie sieht dieses tollere aus? Nicht so, dass Gott die Rebellion der Menschen oder ihre eigene Lossagung von ihrem Schöpfer von oben verächtlich ignoriert. Gottes Toleranz ist nicht Verachtung, Gleichgültigkeit oder Ohnmacht. Auch nicht so, dass er beide Augen zudrückt und seinen Geschöpfen alles durchgehen lässt. Gottes Toleranz ist keine sentimentale Liebe, sie entsteht nicht aus moralischer Gleichgültigkeit.

Gott toleriert die Absonderung seiner Geschöpfe so, dass er sich die daraus entstandenen Folgen selber auf die Schulter packt. Unter der Last dieser Folgen tritt er ins Leiden hinein und gibt zur Aufhebung dieser Trennung sogar sein Leben. Der blutende Jesus, das Kreuz auf Golgatha, ist das Zeichen der göttlichen Toleranz. So trägt er die Folgen aller Gottlosigkeit der Welt.

Jesus ist die Wahrheit, so glauben es die Christen. Er setzt diese Wahrheit aber nicht mit Feuer und Schwert durch. Er verachtet offene Gewalt wie auch geheime Manipulation. Diese Wahrheit zwingt nicht von aussen, sie gewinnt von innen. Sie vergewaltigt nicht, sie überzeugt. Diese Wahrheit hat nur eine Waffe: die hingebende, heilende Liebe. Seine Toleranz wurde aus der Liebe gespiesen; einer Liebe, die langmütig ist und gütig, die sich nicht ereifert, die nicht verletzt und nicht das Ihre sucht, einer Liebe, die alles erduldet, alles glaubt und alles trägt. Hier bekämpfen sich Wahrheit und Toleranz nicht mehr, hier schliessen sie nicht einen Kompromiss, bei dem beide ihre Ansprüche zurückstecken müssen. Hier geschieht das Wunder, dass beide eins werden: Die Wahrheit trägt die Last der Welt, sie wird die Toleranz in Person. Und: Toleranz erweist sich in ihrer Hingabe als die eine Wahrheit. Wahrheit und Toleranz sind wie zwei Seiten derselben Münze. Sie hat einen Namen: Jesus Christus.

Datum: 25.03.2002
Autor: Felix Ruther

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