Im Kielwasser der Kirche

Im zweitgrössten Binnenhafen Deutschlands, auf Rhein, Main und Neckar hat das Schiff „Johann Hinrich Wichern“ schon über 1600 Arbeitsstunden absolviert.

Schifferseelsorge hat ihren Ankerplatz in der Randgruppen-Arbeit Die Binnenschifffahrt dümpelt im wirtschaftlichen Abseits. Wenn die Kapitäne klagen, machen viele gern die Schotten dicht. Andere hören hin. So wie der Mannheimer Ulrich Schäfer, einer von 25 Schifferseelsorgern in ganz Deutschland.

Das Logbuch der „Johann Hinrich Wichern“ erzählt Geschichte. Genauer: Die der Schifferseelsorge Mannheim-Ludwigshafen und die des Binnenschiffer-Seelsorgers Ulrich Schäfer. Zum Beispiel die eines gewöhnlichen Alltages.

Kirche muss zu den Menschen gehen

14 Uhr. Pfarrer Schäfer macht die Leinen los. John Simpson steuert die „Johann Hinrich Wichern“ aus dem Bootsschuppen. Die 12,30 Meter lange schwimmende Kirche mit Platz für 20 Gottesdienstbesucher geht im Mannheimer Hafen auf Dienstfahrt. Im Wasserstrassennetz von 1131 Hektar erfüllt sie einen Auftrag, den ihr Namensgeber als Begründer der Binnenschifferseelsorge im 19. Jahrhundert vom Stapel liess: „Wenn die Menschen nicht zur Kirche kommen können, muss die Kirche zu den Menschen gehen.“

Der 1848 gegründete Central-Ausschuss für die Innere Mission machte Druck. Die Kirche sollte, so die Forderung, nicht nur Gottesdienste halten und wichtige Informationen verbreiten, sondern in den grossen Städten für die Schiffer Kontaktstellen und Volksbibliotheken einrichten und sich um Kleinkinderschulen bemühen. Es ging schliesslich um die Fürsorge für einen bis dahin wenig beachteten Stand. Ende des 19. Jahrhunderts zählte der Central-Ausschuss immerhin 160 000 evangelische Flussschiffer. Heute berichtet Pfarrer Ulrich Schäfer von unter 2000 Partikulierern, also selbstständigen Schiffseignern, in ganz Deutschland. Und es werden immer weniger.

Das Logbuch der „Wichern“ birgt die Namen von Hunderten von Schiffen. Es sind so 20, 30 Leute, die Schäfer regelmässig trifft. Er kennt die Gesichter. Er kennt auch die Geschichten der Familien, die auf dem Fluss leben. Auch die der Familie Minch. Deren neuntes Kind hat er gerade getauft.

Es fahren nicht mehr viele Frauen mit, wenn die Schiffer unterwegs sind, von Mannheim nach Rotterdam, von Stuttgart nach Antwerpen. Früher, da hatten sie sich schnell einen gleichberechtigten Stand neben den Männern erworben, sie packten genauso hart mit an. Und heute? Es fahren nicht mehr viele Frauen mit, weil die Schiffer immer seltener die Eigner der Kolosse sind, die sich mit 20 bis 25 Kilometer pro Stunde über Rhein, Main, Ruhr, Mosel und Donau, durch die holländischen Kanäle und jetzt auch gen Osten bewegen. Die Frauen bleiben an Land und kümmern sich um die Kinder. In der Folge sind auch die Schifferkinderheime nicht mehr ausgelastet. Sie machen dicht. Die evangelische Einrichtung in Seckenheim war ehemals mit 138 Schifferkindern die grösste Deutschlands. Jetzt sind nur noch vier Mädchen und Jungen aus Schifferfamilien hier untergebracht, zieht Schäfer Bilanz.

Alltagsprobleme noch und noch

14.31 Uhr. Die „Wichern“ dreht bei nach Steuerbord. Die „Pugna Vital“ aus Eberbach entlädt gerade Kakaobohnen für die Schokoladenfabrik. Lose Ware. 750 Tonnen, das entspricht 32 Lastwagenladungen. Ursula Krauth ist an Bord. Zusammen mit ihrem Mann Walter, nur zu zweit. Das Arbeitsgerät ist auch die Wohnung. Die Kinder sind derweil bei der Oma, erzählt sie dem Schifferseelsorger. Walter Krauth, das ist einer, der selbst noch im Schifferkinderheim gross geworden ist. Ursula Krauth bestätigt, was die anderen Binnenschiffer beklagen. Und Schäfer hört aufmerksam hin, auch wenn er es überall zu hören bekommt: Der wirtschaftliche Anpassungsdruck, die Tonnage nimmt zu, die Liegezeiten werden immer kürzer. Oder: Manch ein Schiffer weiss beim Löschen noch nicht, was morgen ist. Dann kommt vielleicht der Anruf: „Auftrag in Kiel. Holen Sie Schrott.“

Eigentlich hätte es genügend Transportkapazität

15.15 Uhr. So, wie Peter Rätz. Der empfängt den Hafenkirchenpfarrer und seinen Begleiter Simpson im Steuerhaus. Die Kabine ist betagt aber piekfein. Klar gibt es Satellitennavigation. Das Fernglas liegt in Reichweite. Ein bisschen Nippes, ein goldener Hase, ein kleiner Clown. Der alte Degen und das antike Hufeisen stammen vom Schrott. Den fährt Rätz fast ausschliesslich. „Da machen die wieder Baustahl draus“, sagt der Mann. 1000 Tonnen lädt er in zwei Tagen. Zusammen mit dem Matrosen. Mario Silva stammt von den Kapverdischen Inseln. Rätz versteht die Welt nicht. Hier, auf dem Fluss, sind Transportkapazitäten frei und draussen, auf der Strasse, da ist Stau auf den Autobahnen. Dabei schafft ein einziger Schubverband so viel an Ladung wie 400 Eisenbahnwaggons oder 650 Laster. Der Schiffer zuckt die Schultern. Jetzt ist er 53. Den Job muss er noch zehn Jahre machen. Aber bereuen? Nein, das tut er nicht.

Ein besonderes Völkchen

15.36 Uhr. Schäfer legt wieder ab. Aus der grauen Wasserfläche steigt ein Kormoran auf und zieht in Richtung Heizkraftwerk. Backbord rudert ein Sportboot vorbei. Keine Spur von Hafenromantik. Oder doch? Der Schifferseelsorger, einer von 25 in Deutschland, erzählt von den „Schiffigen“. Das sei ein besonderes Völkchen, „sehr emotional, direkt und humorvoll“. Schäfer erinnert sich an den Anruf von Familie Reger. Die „MS Athene“ war gerade im Oberwasser der Schleuse Feudenheim. Regers baten um einen Termin. Und zwar für eine Trauung an Bord. „Dabei sind die beiden schon seit 16 Jahren verheiratet“, erklärt Schäfer. Am 1. Mai wird er ihnen auf der „Wichern“ den kirchlichen Segen geben.

Ein Boot steuert man mit dem „Bauch“

Schäfer, der seine Ausbildung auch an der kirchlichen Hochschule für Sozialarbeit in Chicago in der Tradition des enfant terrible der Ghettos, Saul Alinsky, absolviert hat, gilt mittlerweile selbst schon als „Schiffiger“ und nicht mehr als Landratte. 1994 ging er bei der Schifferseelsorge in Mannheim an Bord. Den Bootsführerschein hatte er in wenigen Wochen gemacht. „Ein Boot“, sagt der weisshaarige Mann und lacht, „das steuert man mit dem Bauch. Ein Auto mit dem Kopf.“ Er hat viel gelernt über seine Schäfchen, so, wie die paar Kollegen, die in Kehl, Duisburg, Bremen, Hamburg, Berlin oder Minden die Hand voll Seelsorgerboote, die es in Deutschland noch gibt, durch die Hafenbecken lenken. Drei Mal in der Woche fährt er raus zu den Schiffern, schaut, wer gerade angelegt hat, wer lädt, wer löscht, Raps und Soja – Mannheim hat schliesslich die grösste Ansammlung von Getreidemühlen in ganz Europa – Schweröl, Benzin, Säuren, Möbel und Chemikalien auf Containerschiffen. „In den Öl- und Gefahrenhafen dürfen wir mit unserem Boot nicht rein“, erklärt er und verweist auf ein ganz anderes Transportmittel. Um hier die Kapitäne zu besuchen, leiht er sich eben ein Dienstfahrrad von der BASF. Nicht immer ist er allein unterwegs. Fünf oder sechs Ehrenamtliche helfen, beispielsweise beim Warten des Bootes, so wie Simpson, der gelernte Schweisser.

16.10 Uhr. Letzte Station. Schäfer macht die „Wichern“ mit dem Palstek am Bunkerboot fest, das ist der Kaufmannsladen für die „Schiffigen“. Die Crew begrüsst den Pfarrer wie einen alten Bekannten. Hier gibt es Diesel und Getränke, die Golden-Eagle-Flagge, Hempels Marmelade und die neuesten Neuigkeiten – ohne Seemannsgarn, versteht sich.

17 Uhr. Die „Johann Hinrich Wichern“ ist wieder in den Schuppen bugsiert. Schäfer schliesst die Tür unter dem blauen Ankerkreuz ab. Jetzt ist er wieder Pfarrer der Hafenkirche. Aber in dieser Funktion will er im nächsten Jahr die Segel streichen. Am 10. Mai 1953 war die „Hafenkirche zur Barmherzigkeit Gottes“, aus den Ruinen einer Korkfabrik aufgebaut, eingeweiht worden. Also feiert sie bald 50. Geburtstag. Danach geht Schäfer, der sich seinem Viertel, dem „Jungbusch“ mit 64 Prozent Ausländeranteil, so verbunden fühlt. Er, der als einziger evangelischer Pfarrer in der benachbarten Moschee Führungen leiten darf.

Seelsorge auf der Strasse

Die Zukunft der Hafenkirche war lange Zeit ungewiss. Die halbe Stelle sollte gestrichen werden. Denn es gibt nur 1000 Evangelische. Aber die anderen brauchen die Hafenkirche als Anlaufstelle doch auch, sagt Schäfer. An Karfreitag gibt er immer mit seinem katholischen Kollegen das Abendmahl aus. Eine Muslima, die Frau eines Russlanddeutschen, sitzt am Klavier. Und nach dem Gottesdienst treffen sich alle vorn im Gemeinschaftsraum, die Sizilianerin, der Mann, der dem Pfarrer gesteht: „Herr Schäfer, ich halte meinen Saufkopp nicht mehr aus.“ Einer sagt, er brauche dringend einen Kühlschrank, ein anderer fragt nach Arbeit. Seelsorge findet hier auf der Strasse statt, so Schäfer. Nicht nur auf der Wasserstrasse. Aber am Rand. Und bei denen am Rand habe sich ja auch Jesus immer herumgetrieben.

Datum: 15.04.2002
Autor: Dagmar Lorek

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