Erst kommen die Aktien – und dann die Moral?

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Aktienkurse
Anleger

Aktienhandel – früher fast eine Geheimwissenschaft weniger Wohlhabender – ist zum Volkssport geworden. Durch Anlageformen wie Fonds kann heute jeder einfache Arbeiter Erspartes an die Börse tragen. In der Schweiz und in Deutschland besitzt inzwischen mehr als jeder Dritte direkt oder über Fonds Aktien. Nachrichtensendungen bringen Informationen über Dow Jones und Dax so selbstverständlich wie die Wettervorhersage. Allerdings mehren sich die Stimmen, die davor warnen, im Zockerfieber ethische Grundsätze über Bord zu werfen. Die Frage ist: Haben Aktien etwas mit Moral zu tun?

Die Experten sind sich einig: Wer Geld langfristig anlegt, bekommt bei einer klugen Mischung mehrerer Aktientitel die höchste Rendite. Daran ändern nicht einmal Kurszusammenbrüche etwas. Hat beispielsweise jemand vor dem Börsencrash von 1987 für 10.000 Franken Standardwerte gekauft, so besass er allen Turbulenzen zum Trotz Anfang 2001 mehr als 40.000 Franken. Wer erst nach dem Crash einstieg, kam sogar auf das Sechsfache seines ursprünglichen Einsatzes.

In den vergangenen 20 Jahren erreichte ein Anleger durch Kurssteigerungen und Dividenden mit deutschen Aktien eine durchschnittliche jährliche Wertsteigerung von neun Prozent. Mit Anleihen dagegen waren nur 6,5 Prozent zu erzielen. Diese Botschaft hat inzwischen auch den Kleinsparer im letzten Winkel unserer Zivilisation erreicht –und den Börsen einen historisch beispiellosen Zufluss an Kapital beschert.

Irreale Börsenwerte

Dieser Zufluss ist es, der die internationalen Märkte in den vergangenen Jahren zum “Brummen” gebracht hat. Firmen, von denen nie jemand etwas gehört hatte, plazierten sich in kürzester Zeit mit schwindelerregenden Kursen. Traditionsreiche, umsatzstarke Konzerne rutschten auf einmal ins Mittelfeld. Spiegelte ursprünglich die Summe der Aktien den tatsächlichen Wert eines Unternehmens wieder, so zeigt der Kurs heute in erster Linie an, ob ein Titel gerade von einer Spekulantenhorde begehrt oder fallengelassen wird. Wenn sich alles auf einen Titel stürzt, steigt dessen Wert ins Unermessliche, wie das Beispiel des Internetdienstes AOL zeigte: In der Spitze legten die Aktien um 78000 Prozent zu.

Geplatzte Seifenblase

Der Bestseller-Autor Günter Ogger illustriert das krasse Missverhältnis zwischen Börsen- und Unternehmenswert in seinem Buch “Der Börsenschwindel” mit folgendem Beispiel: Das Netzwerkunternehmen Cisco war im März 2000 der weltweit teuerste Konzern mit einem Aktienwert von 579 Milliarden Dollar. Zu diesem Zeitpunkt machte Cisco einen Jahresumsatz von stark 12 Milliarden Dollar. Den traditionsreichen Autokonzern General Motors hätte man zur selben Zeit für günstige 53 Milliarden Dollar kaufen können – bei einem Jahresumsatz von 177 Milliarden!

“72 Prozent der heutigen Börsenkurse haben mit den realen Geschäften der Firmen nichts mehr zu tun, sondern basieren allein auf Erwartungen”, zitiert Ogger das Untersuchungsergebnis einer Bostoner Beratungsgruppe. So kommt es, dass starke Unternehmen, die in der Vergangenheit ausschliesslich für ihre Produkte warben, heute Anzeigen für ihre Aktien lancieren und bei Wirtschaftsjournalisten Schönwetter machen, um kursschädliche Schlagzeilen zu vermeiden. Dass ein hochschnellender Kurs wie eine Seifenblase platzen kann, demonstrierte Deutschlands Volksaktie Nummer eins, die Telekom: Innerhalb eines Jahres sackte sie ab. Eine Rolle spielte dabei die Frage, ob die Öffentlichkeit über den tatsächlichen Wert der Telekom-Immobilien getäuscht worden war.

Gewinne ohne Haftung

Für Dietmar Lütz, Beauftragter der Vereinigung Evangelischer Freikirchen am Sitz der Bundesregierung, ist die Telekom ein Beispiel, dass im Börsengeschäft ethisch betrachtet erschreckende Systemfehler stecken. Geschönte Nachrichten sollen Gewinne garantieren. Ehrlichkeit und Unternehmenstransparenz werden zum Feind von Kurssteigerungen. Am gravierendsten ist für Lütz aber, dass bei den immer beliebteren Aktienfonds die Kapitalgeber – also beispielsweise die Kleinanleger – in der Regel keine Ahnung haben, welche Unternehmen mit welchen Mitteln das Geld “arbeiten” lassen.

Ob nun Rüstungsfirmen oder Gen-Konzerne für die Dividende am Jahresende verantwortlich zeichnen, bleibt den Investoren verborgen. Es interessiert sie zumeist auch nicht. “Ich habe einst eine Bank gefragt: Wie investiert Ihr mein Geld? Die Antwort war unbefriedigend – und ich habe mein Geld einer anderen Bank gegeben”, berichtet Lütz. Inakzeptabel ist seiner Ansicht nach, dass ein Aktionär in keiner Weise für Fehler (oder gar Verbrechen) des Unternehmens verantwortlich gemacht werden kann, in das er sein Geld pumpt. Wenn eine Ölfirma eine Umweltkatastrophe anrichtet, fällt für den Aktienbesitzer im schlimmsten Fall der Kurs. Dass er durch seine Anteile vielleicht eine verantwortungslose Unternehmenspolitik erst ermöglicht hat, spielt dagegen keine Rolle.

Gütesiegel für Aktien

Die Forderung von Lütz und anderen Wirtschaftsethikern aus verschiedenen Konfessionen: Es braucht Anlageformen mit Gütesiegel, “ethische Aktien” sozusagen. In den USA und England gibt es bereits traditionsreiche Fonds, die an Unternehmen strenge ökologische und soziale Massstäbe anlegen – so seit 1928 der “Pioneer Fund”, für den Alkohol- und Pornoindustrie tabu sind.

Hier steckt die Idee noch in den Kinderschuhen. Der katholische Moraltheologe Johannes Hoffmann (Frankfurt am Main), der Ethiker Konrad Ott (Greifswald) und der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Scherhorn (Stuttgart-Hohenheim) haben einen Leitfaden zur ethischen Bewertung von Unternehmen erarbeitet und Kriterien für die “Kulturverträglichkeit” benannt. Klar ist, dass Anlagengewinne aus Kriegen, Kinderarbeit oder der Kooperation mit unterdrückerischen Regimes abzulehnen sind. Eine nähere Untersuchung “sauberer” Unternehmen hat Hoffmann zufolge ein Vorurteil widerlegt: Dass die ethisch-ökologische Geldanlage weniger Rendite abwirft als ein “normales” Investment. “Öko- und ethisch-aktive Unternehmen zeigen eine bessere Wertenticklung als Firmen, die wenig oder nichts tun”, so der Theologe.

Fonds unter der Lupe

Inzwischen kümmert sich sogar eine Agentur darum, börsennotierten Unternehmen ethisch auf den Zahn zu fühlen. Die “Oekom Research AG” verfasst und verkauft Beurteilungen, in denen nach Umweltverträglichkeit, Umgang mit Gewerkschaften, Arbeitszeitregelungen und der Beschäftigung von Schwerbehinderten gefragt wird. Laut einer Studie der Universität Hannover ist das Volumen ethischer und ökologischer Fonds im deutschsprachigen Raum zwischen 1998 und 2000 von 0,6 auf 3 Milliarden Mark gestiegen. Das sind immer noch “Peanuts“. Dennoch: Einer Umfrage zufolge finden 40 Prozent der Anleger solche Investments attraktiv. Aber erst drei Prozent von ihnen wurden solche Fonds schon einmal angeboten – und nur 0,7 Prozent haben bereits in diesen Bereich investiert.

“Den biblischen Fonds gibt es nicht”

Dass Geldanlagen keine moralfreie Zone sind, davon ist auch der Vermögensberater Johannes Schäffer (Stuttgart) überzeugt. Mankann bei der Beurteilung eines Unternehmens aber zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Was ist aus biblischer Sicht beispielsweise von einem Ökofonds zu halten, der einerseits gegen Umweltgifte kämpft und andererseits die Gleichberechtigung homosexueller Partnerschaften propagiert? “Ethik ist nicht gleich Ethik”, stellt Schäffer fest. Der 36jährige Bankkaufmann ist Gesellschafter der Vermögensberatungsgesellschaft Plansecur (Kassel). Sein Unternehmen bietet keine eigenen Produkte an, sondern sondiert den Markt nach Angeboten, die für die Interessen der Kunden am geeignetsten erscheinen. Rigorose moralische Kriterien sind seiner Einschätzung nach bei Aktien nicht einzuhalten. “Den biblischen Fonds gibt es nicht.” Häufig herrschten Verflechtungen. So könne es sein, dass ein Pharmakonzern 99,9 Prozent seines Umsatzes mit Heilpräparaten und 0,1 Prozent mit abtreibenden Mitteln mache. “Unethische” Unternehmen bildeten aufs Ganze gesehen ohnehin nur eine “marginale Grösse”.

Was den Vermögensberater mehr beunruhigt als das Gebaren von Konzernleitungen ist die Zockermentalität bei einem Teil der Anleger. Manche hätten 1999 Gewinne von 50 bis 60 Prozent mitgenommen und seien immer noch unzufrieden. Für Schäffer ist das Raffgier – und die lehnt er ab.

Das Sparbuch ist keine Alternative

Genügsame Geister sollten wissen: Es müssen nicht immer Aktien sein. Keine ethische Alternative ist das traditionelle Sparbuch beim heimischen Geldinstitut. Wer hier brav einzahlt, stellt sein Privatvermögen Banken und Sparkassen zur Verfügung. Und die verleihen das Geld sofort zu wesentlich höheren Zinssätzen weiter. Was damit finanziert wird – darauf hat der Sparer auch keinen Einfluss.

Datum: 15.05.2002
Autor: Marcus Mockler
Quelle: idea Deutschland

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