Der Ruf nach Sozialkompetenz

Dr. Rolf Lindenmann
Sozialkompetenz will gelernt sein!

Rolf Lindenmann leitete einen Ferienkurs zum Thema "Sozialkompetenz", bei dieser Gelegenheit beantwortete er einige grundsätzliche Fragen dazu. Sozialkompetenz kann mit Beziehungskompetenz gleichgesetzt werden. Wie kann nun Sozialkompetenz gefördert werden?

Bausteine: Rolf Lindenmann, was bedeutet Ihnen der Begriff Sozialkompetenz?
Dr. Rolf Lindenmann: Ich umschreibe den Begriff auch mit Beziehungskompetenz. Er beinhaltet für mich die Fähigkeit, mit andern Wesen, primär mit Menschen, aber auch mit Gott und der gesamten belebten Schöpfung, eine Beziehung zu pflegen.

Bausteine: Welche Aspekte gehören für Sie noch dazu?
Es geht vornehmlich darum, sich sozial zu verhalten, Beziehungen herzustellen und ganz besonders auch eine gute Beziehung zu sich selbst zu pflegen. Dazu gehört auch eine gesunde und angemessene Einschätzung der eigenen Umgebung. Ich verhalte mich so, dass das ganze Gefüge gefördert und nicht behindert wird.

Bausteine: Welche Rolle spielt dabei die Beziehung zu sich selbst?
Wer sich selbst nicht annimmt und liebt, kann auch andere nicht lieben und annehmen. Wer mit andern nicht kommunizieren und im Frieden leben kann, kann das auch nicht mit sich selbst. Wir brauchen eine gesunde Dreierbeziehung: Zu uns selbst, zu Gott und zur Mitwelt. Jeder dieser Bereiche beeinflusst auch die andern.

Bausteine: Christen haben also einen Vorteil, weil sie eine Beziehungsebene mit Gott haben. Sind sie in ihrer Beziehungskompetenz andern überlegen? Bringen sie sich fruchtbar in die Gesellschaft ein?
Das ist zumindest eine Chance, wenn auch nicht selbstverständlich. Viele Menschen, die bereits an Beziehungsproblemen leiden, finden zum Glauben. Nun haben sie eine gute Basis, ihre Beziehungsprobleme anzugehen und ihre Beziehungskompetenz auszubauen. Wenn sie persönlich Frieden und Versöhnung erfahren, sind sie in der Lage, mit der Mitwelt eine gesunde Beziehung aufzubauen.

Bausteine: Wo beginnen Sie bei der Beratung eines Menschen, der unter schweren Beziehungsstörungen leidet?
Ich versuche herauszufinden, wo seine Beziehungsprobleme verwurzelt sind. Es gibt Menschen, die in der Beziehungspflege ungeübt sind, weil sie dazu wenig Gelegenheit hatten. Es können aber auch schmerzliche Erfahrungen vorliegen, die eine Beziehung zu wichtigen Bezugspersonen erschweren.

Bausteine: Wie kann da geholfen werden?
Das ist sehr unterschiedlich. Wir müssen erkennen, dass wir alle in einer unheilen Welt leben und damit auch ungeheilte Bereiche in uns tragen. Es gibt aber Menschen, die davon besonders betroffen sind. Sie brauchen dann eine besondere, auch fachliche Beratung.

Bausteine: Kann eine gute Beziehungskompetenz von Christen auch zu einem christlichen Tatzeugnis werden?
Auf jeden Fall. Ich kenne zahlreiche Christen, die sehr gut in der Lage sind, auf andere Menschen zu hören, auf ihre Fragen einzugehen, sie ganzheitlich wahrzunehmen und sie zu beraten, weil sie selbst nicht "besetzt" sind. Das Besetzt-Sein mit Altlasten, zum Beispiel Ängsten, schmälert unsere Wachheit gegenüber andern Menschen. Wer davon frei ist, kann andere besser erfassen und sie auch wertschätzen.

Bausteine: Haben unsere Institutionen, zum Beispiel Schulen, heute ein Defizit an Sozialkompetenz?
Ich empfinde eine Kluft zwischen Wissen und Praxis im Blick auf Beziehungs- und Sozialkompetenz. Die Aneignung dieser Kompetenzen hat viel mit aufgenommenen Werten zu tun. Wenn wir zum Beispiel nicht die Wertschätzung der Menschen als Geschöpf Gottes vermitteln und leben, können wir auch nicht Sozialkompetenz vermitteln. Ich stelle heute eine verbreitete Lebensverachtung fest. Ohne den Glauben an einen Schöpfer verliert das Leben schnell an Wert. Wenn man sich gegenseitig nicht wertschätzt, kann man sich auch nicht lieben. Der Liebesmangel ist zentral in unserer Welt.

Bausteine: Wo muss diese Wertevermittlung beginnen?
Wir müssen lernen, den Mitmenschen so anzunehmen wie er ist. Nicht alle Menschen reagieren auf Liebe spontan positiv. Doch wenn diese anhält und voraussetzungslos ist, kommt es oft zu einem Aufblühen geliebter Menschen. Techniken und Methoden allein verändern unsere Welt nicht.

Bausteine: Ein praktisches Beispiel: Was könnte ein Lehrer an einer Realschule tun, der feststellt, dass er allein gegen Gewalt und Unordnung an seiner Schule ankämpft, während die Kollegen resignieren und ihm gar Steine in den Weg legen?
Zuerst zu den Kindern: Vielen prügelnden Jugendlichen fehlen die Erfahrungen, wie sie mit ihrer Kraft auch positiv umgehen könnten. Sie müssten motiviert werden, ihre Kraft auch zum Schutze von Schwächeren einzusetzen. Das kann ein enorm positives Gefühl auslösen. Jugendlichen müsste heute viel mehr Gelegenheit gegeben werden, solche Erfahrungen zu machen. Die Erfahrung vermittelt auch die Fähigkeit, anders zu leben. Strafpredigten bringen wenig.

Bausteine: Wie könnte das konkret aussehen?
Ich stelle mir vor, dass ein Prügler motiviert werden könnte, zum Bodyguard eines schwächeren und unter Gewalt leidenden Mitschülers zu werden. Oder dass Jugendliche älteren Menschen bei schweren Arbeiten behilflich sind. Sie müssten für eine sinnvolle Sache gewonnen werden, was selbstverständlich einiges an persönlicher Investition erfordern würde.

Bausteine: Wie könnte der Rat an die Lehrkräfte lauten?
Das eigene gute Beispiel ist wohl am wirksamsten. Wer in seiner Klasse durch sein gutes Beispiel erfolgreich ist, kann damit rechnen, dass er nach seinem Rezept gefragt wird. Nur über die Missstände zu streiten, bringt nichts.

Bausteine: Müsste ein gemeinsamer Wertekatalog erarbeitet werden?
Das ist nur möglich, wenn schon ein gemeinsamer Konsens vorhanden ist. Wenn die Leute bereit sind, könnte aber zum Beispiel ein gemeinsamer Verhaltenskodex für die Schülerinnen und Schüler erarbeitet werden. Massnahmen zur Gewaltprävention müssten sowohl mit den Jugendlichen wie mit den Kolleginnen und Kollegen geplant werden. Es lohnt sich schon, mit der Klasse über neue Verhaltens-weisen zu sprechen. Dabei dürfen die Erwartungen nicht zu hoch geschraubt werden, und es braucht den Faktor Zeit.

Bausteine: Wie erwirbt man sich persönlich Sozialkompetenz?
Zuerst müsste man sich eingestehen, dass man sie nicht hat, oder dass man zwar die Theorie hat, aber nicht die Praxis. Sodann muss ich mir klar werden, wo ich überhaupt stehe. Ich kann nur dort leben, wo ich schon bin, und nicht dort, wo ich sein möchte. Ich stelle mir dann die Grundfrage: Wie gehe ich mit meinen Möglichkeiten und Grenzen um? Welchen Lebensstil pflege ich? Lebe ich gemäss meinen Überzeugungen? Lebe ich meine Berufung? Sodann muss ich mich fragen: Wie gehe ich mit Krisen und Konflikten um? Ich muss lernen (richtig!) zuzuhören, zu kommunizieren. Ich muss aber auch üben, gegenwärtig zu sein. Viele sind gar nicht richtig da, weil sie immer mit irgendetwas beschäftigt sind.

Datum: 13.02.2003
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG

Werbung
Livenet Service
Werbung